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Exkurs zum Thema Selbstklinger

Das ‚Panphonium‘

Unter den Selbstklingern gibt es eine Gruppe von Individuen, die durch ihre charakteristische Mehrklangigkeit oder andere Besonderheiten auffallen. Solche Überraschungsphänomene sind am besten in einem ‚Panphonium‘ mit Klangkuriositäten aufgehoben, die physikalisches Rätselraten und verstärkte Klangschatzsuche auslösen können. Die interessantesten Stücke bei den ‚jubilierenden Realien‘ sind eine in einem Dominantseptakkord schwingende achteckige Glaskanne, ein Emaillemilchtopf mit einem klaren Molldreiklang, ein Profileisenstab mit angeschweißten Haken, der einen brausenden Glockenklang – ebenfalls in einem ungetrübten Molldreiklang – hören läßt, die Dur-Rübenhacke eines ‚fröhlichen Landmanns‘, ein ausgesiedelter russischer Kochtopfdeckel mit einer Ausschwingdauer von mehr als einer Minute auf dem Ton H, ein ausgemusterer Schülerstuhl aus Holz mit dur-quartsextakkordischem Klangsitz und zahlreiche weitere Objekte von Kneifzangenhälften über Hufeisen und verbogene Bolzen bis zu Marmorplatten-, Dachziegel-, Gasbeton-, Glas- und Keramikbruchstücken, die intervallisch oder akkordisch definierbar ‚jubilieren‘.


Materialien dieser Art haben als akustisch auffällige Einzelstücke nicht nur informative Bedeutung. Sie sorgen auch als kuriose ‚Solisten‘ für musikalische Überraschungen. Im übrigen kann ein Klanggemisch, wie sie es im Zusammenspiel erzeugen, auch zum Ausgangspunkt für Gestaltungen unter dem Aspekt der Frequenzdichte werden – besonders effektvoll unter Einbeziehung von Felgen und dem dort wegen ihres langen Ausklingens in idealer Form begegnenden Schwebungsphänomen.


Autophonie‘

In einer Installation, die sich zum Ziel setzen könnte, alle Teile eines verschrotteten Autos schwingungsgerecht ‚autophonisch‘ zu formieren, gebührte den Felgen sicherlich eine Solorolle. Musikalisch faszinierend, nach dem Auswahlprinzip ohne Hilfsgeräte zu ‚stimmen‘, begegnen Autofelgen besonders bei Reifenhändlern, die auch ein Gebrauchtreifenlager betreiben. Dort findet man sie, in der Regel säuberlich umfallsicher gestaut in einer Abteilung ausgemusterter Exemplare, die zu Recyclingzwecken gesammelt werden. Da ihr Materialwert beträchtlich ist, wird ein Händler seine Felgen nicht ohne weiteres in beliebiger Zahl verschenken. Immerhin sind werbewirksame Leihgaben denkbar, mindestens die Erlaubnis zur interesseweckenden Klangprobe.


Besondere Aufmerksamkeit verdienen Felgen aus Aluminium. Aber trotz ‚Leicht‘-Metall Vorsicht beim Ausprobieren! Handelt es sich doch um Gewichte von durchschnittlich 6 bis 10 kg je Felge, die am Faden frei pendelnd gehalten werden müssen. Wer vom Felgensoundfieber gepackt wird und Lust auf eine längere Versuchsreihe bekommt, sollte sich je nach den Gegebenheiten des Lagerplatzes mit Hilfsmitteln eindecken, die eine möglichst rückenschonende probeweise Aufhängung an Ort und Stelle zulassen, mindestens mit einer stabilen Stange oder einem Kantholz mit Haken und zwei kräftigen Ständern. Viel kräftigen Bindfaden, beschreibfähiges Klebeband und Arbeitshandschuhe nicht vergessen.


Für ein Felgenglockenensemble von nur wenigen Klängen genügt das Ohr zur musikalisch stimmigen Auswahl. Legt man allerdings Wert auf bestimmte Tonhöhen und Integrierfähigkeit der Glockenklänge im Hinblick auf ein konventionell gestimmtes Instrumentarium, sollte man nicht ohne elektronische Stimmhilfe auf die Klangpirsch gehen. Dann empfiehlt es sich, mehrere Reihen zu bilden, in die alle passabel klingenden Felgen der Tonhöhe nach eingeordnet werden. Maßgebend für die Zuordnung zu einer bestimmten Reihe ist dann der gemeinsame Grad der Abweichung vom Bezugspunkt a = 440 Hz. So entstehen Reihen, die in sich stimmig sind, die aber nur bei ausdauerndem Probieren zu einer kompletten diatonischen oder gar chromatischen Skala anwachsen werden. Als wahren Glücksfall müßte man eine Reihe feiern, die bei Abweichung +/- 0 zur Vollständigkeit aufliefe.


Will man bei der Suche gründlich und letztlich doch zeitsparend vorgehen, so sollte jedes abgehorchte und wieder abgelegte Stück für weitere Klangvergleiche seinen Aufhängefaden behalten und mit einem um den Faden gelegten Kreppklebeband etikettiert werden. Dort werden die Daten bzw. besonderen Merkmale notiert, die nach einem Transport das Ordnen der Felgen auch ohne Klangprobe ermöglichen.


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