- 266 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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noch einen klar definierbaren Ton abgibt. Die Überreste der Lampenschalen klingen allerdings kräftiger und reizen mit ihren verschiedenen Tonhöhen zum melodischen Improvisieren. – Halt, ist das nicht genau der Anfang von Stille Nacht? Tatsächlich, Dreitonruf! Backe, backe Kuchen ... – mit einer nur ganz geringen, auch bei strengsten Maßstäben zu vernachlässigenden Intonationstrübung – Grundton ‚Fis‘, wie sich bei der Stimmgabelkontrolle erweist. Es stört aber doch, daß in jeder Scherbe deutlich hörbar mindestens noch ein weiterer Ton mitschwingt. Nun ja, für Demonstrationszwecke lohnt es sich vielleicht trotzdem oder gerade deswegen, ein paar von ihnen unter Verschluß aufzubewahren. Nur nicht vergessen, die schnell zu diesem Zweck herbeigeholte Plastikdose von außen deutlich sichtbar mit einer Notiz über den Inhalt zu versehen: ‚Stille Nacht in polyphonem Glasbruch‘.


Eine Lampenschale ist sogar heil geblieben. Sie stellt ein wahres Prachtstück dar, mit ihrem klaren, lange nachschwingenden Ton, der sich, da die Schale über die Hand gestülpt auf einem Finger balanciert wird, beim vorsichtigen Anschlagen frei entfalten kann. Erklingt die Stimme auf verschiedenen Tonhöhen in der Nähe der Öffnung oder schallt sie direkt hinein, spürt man in den Händen, wie bei einer bestimmten Tonhöhe der ganze Glaskörper in Vibrationen gerät und der Klang, ohne daß die Stimme sich stärker anstrengt, fast zu einem Dröhnen anschwillt. – Nein, das Blasen über die Öffnung hinweg – wie beim Flaschenblasen – erzeugt keinen Ton. Dazu scheint die Öffnung zu weit zu sein. Mindestens aber ist aus dem leichten Rauschen im Innenraum genau der Klang zu vernehmen, der vorher zu dem überraschenden Dröhneffekt geführt hatte ...

Leider hat unser Scherbenmusiktüftler keine Zeit mehr, weiter zu experimentieren. Er freut sich aber schon auf das Messingrohr, das im oberen Teil der Lampenkonstruktion als Kabelführung und Aufhängungsstabilisierung diente und in musikalischer Funktion einen feierlichen Röhrenglockenklang oder, je nach Bedarf, eine ganze Naturreihe Trompetentöne abgeben wird. In seiner Phantasie hat er sich schon für die Glockenversion entschieden: Das Rohr wird im Zentrum eines Mobiles hängend, im Ensemble mit den übrigen Metallteilen beim leisesten Anhauch in seiner Umgebung einen paradiesisch leuchtenden Klang entfalten – am schönsten im Dunkeln. Die beiden halbkugelförmigen Schalen der Ummantelung für den Mechanismus der Kabelaufrollung, der Baldachin, die s-förmig gebogenen massiven Halterungselemente für die Lampenschalen und die Verzierungen der Speichen, in der Mitte das Rohr, ... ‚Schläft ein Lied in allen Dingen ...‘ – besonders in Kronleuchtern – bis sie endlich herunterfallen. Recht hat er, der gute Eichendorff! Mag er sich nun im Grabe herumdrehen ... oder überrascht lauschen. Vernahm er doch sonst seinen so trefflich formulierten Gedanken aus schulischen Gefilden eher in gesungener Form! –


Zur Aufhängung dienen wohl besser die Speichen eines zerschlissenen Regenschirms aus dem bereits angesammelten Projektfundus. Für die gedrechselten Holzspeichen, die zum Teil angeknackst sind und das Kabel hat er eher hilfsdienliche musikalische Zwecke im Sinn. Aber warten wir’s ab! Vielleicht haben die Schüler in der Projektwoche angesichts der traurig blinkenden Lampenruine im Pappkarton ganz andere – oder überhaupt keine – Ideen ... . Wie gut, daß es nicht eine billige Kunststoffleuchte war!


Ansätze einer projektspezifischen Materialkunde



Das musikalische Potential des Schwingungen-Projekts kann sich um so differenzierter entfalten, je intensiver die Klangwerker ihr Ausgangsmaterial kennen und sich dessen funktionaler Mehrdeutigkeit bewußt sind. Um in diesem Sinne Ohr und Auge für den musikalisch-kreativen Umgang mit dem Arsenal zu schärfen, ist es zweckmäßig, die Objekte unter dem Aspekt einer projektspezifischen Materialkunde zu betrachten.

Von einem umfassenden Blickwinkel her gesehen, erfüllt der einzelne Gegenstand unabhängig von Stoff und Gestalt, jedoch unterschiedlich effektvoll eine


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