- 242 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Zum ersten: Beethovens Es-Dur-Sonate op. 31, Nr. 3, Takt 36. Der erste Klang dieses Taktes lautet: f-ces-es1-as1, womit der erste Teil des Kriteriums erfüllte wäre. Es wird sogar übererfüllt: es sind – von der Schreibweise abgesehen – sogar dieselben absoluten Tonhöhen wie bei Wagner (f-h-dis1-gis1). Dieser Umstand veranlaßte Rothgeb zur Frage: „Shouldn’t its name [Tristan-Akkord; H. K.] be changed, perhaps to something like ‚the Op. 31 No. 3 chord‘?“ (Rothgeb 1995, Absatz [9], bzw. 1996, S. 52.) Freilich war sie für ihn eine rhetorische, da er auf der enharmonischen Schreibung bestand. Wie sieht es aus mit dem zweiten Teil des Kriteriums? Das es1 wird zum d1, nicht aber das f zum e oder fes. Interessanterweise gibt es aber dennoch die zweite Auflösung: Nach einer Wiederholung der Takte 35 f. in der nächsthöheren Oktavlage wird das Ganze um einen Ganzton verschoben real aufwärts sequenziert. Dadurch kommt es in Takt 40 zu dem Klang g-des-f1-b1 mit der Auflösung des f1 ins e1. Das Interessante ist nun die Wiederholung eine Oktave höher. An den Takt 42 schließt sich – wenn auch nicht simultan – die Vertikale ges1-b1-e2-des3 an. Mit anderen Worten: auch die Septimenfortsetzung ist, wenn auch nicht simultan, gegeben – die Septime g1-f2 (1. und 2. Zählzeit von Takt 42) wird zur übermäßigen Sexte ges1-e2 (2. Zählzeit Takt 43). Darüber hinaus – was zu den obigen Kriterien nicht hinzugenommen wurde – findet (wie bei Wagner) ein Stimm- und Lagentausch zwischen den beibehalten Tönen statt: die Stimme, die das b2 hat, springt in des3, während das des1 ins b2 absteigt (bei Wagner springt bekanntlich das h ins gis, während das gis1 als chromatischer Durchgang über das a1-ais1 zum h1 geht). Daß dennoch der Höreindruck bei Beethoven nur auf Umwegen ans Tristan-Vorspiel erinnert, hat nicht nur mit der fehlenden chromatischen Linie zu tun, auch die tonartlich Zuordnung ist davon geschieden. Wir haben es bei Beethoven mit dem Fall zu tun, daß der zweite Akkord als alterierter, d. h. als übermäßiger Quintsextakkord aufgefaßt werden muß (entspricht Notenbeispiel 2e). Nicht nur ist er so notiert, auch ist der vermindert-kleine Akkord in seiner Subdominantwirkung gestärkt dadurch, daß er jeweils zuvor in jener Umkehrungsform erscheint, die man als Akkord mit der Sixte ajoutée bezeichnet und – was noch bedeutsamer ist – er wird auch so aufgelöst, nämlich in einen F-Dur-Klang und nicht etwa nach Ces- oder H-Dur (oder -Moll).


Zum zweiten: Die Takte 14 und 15 des ersten Satzes von Mozarts G-Moll-Symphonie KV 550. Die Streicher spielen in Takt 14 die Töne E-e-b-d1-d2, zu dem die Bläser ein g-g1-g2 (sowie frei einsetzende Fis-Vorhalte) hinzufügen, in Takt 15 lauten die Töne Es-es-g-cis1-cis2, während die Bläser ihr g-g1-g2 stufenweise über a-a1-a2 nach b-b1-b2 geführt haben. Der tonartliche Bezug ist analog zum Beethoven-Beispiel eine Lösung nach D-Dur (entspricht wiederum Notenbeispiel 2e).


Zum dritten: Der Anfang von Ravels choreographischem Poem La Valse basiert – neben einem ostinaten Wechselnoten- bzw. Vorhaltsmotiv E-F bzw. Kontra-E-Kontra-F – auf den von den ersten melodischen Walzer-Phrasen umschriebenen Akkorden F-As-c-d (Ziffer 1) und F-As-ces-des (1 Takt vor Ziffer 2). Diese Akkordfolge ist unter dem fraglichen Kriterium die erste Umkehrung unserer Tristan-Akkordverbindung: aus dem Septintervall wird durch die Umkehrung das charakteristische Sekundintervall. (Von Interesse ist diese zitathafte Anspielung nicht nur wegen ihrer möglichen semantischen Implikationen, auch die unmittelbar abschließende Fortsetzung ist noch nach dem oben angesprochenen Prinzip des Liegenlassens zweier Akkordtöne bei sekundweiser Fortführung der restlichen zwei Vierklangstöne konstruiert: Bei Ziffer 3 wird aus F-As-ces-des der Klang F-As-B-d, auf den der Klang G-H-f-g folgt, der als unvollständige Form des Vierklanges F-G-H-d gesehen werden kann. [Beides gilt auch für ein weiteres, ebenfalls durch seine Stellung als Beginn eines Stückes exponiertes Beispiel, nämlich für den Beginn von Debussys Prélude à l’après-midi d’un faune: zum einen wird wie bei Wagner und Ravel ein vermindert-kleiner Septakkord – Ais-cis1-e1-gis1 – mit einem Dominantseptakkord – Ais-cisis1-eis1-gis1, notiert als B-d-f-as – in der Weise verknüpft, daß zwei Töne liegenbleiben, die beiden anderen in Halbtonschritten parallel fortgeführt werden, im Unterschied zu Wagner und Ravel allerdings aufwärts; zum andern: Daß der inhaltliche Bezug von Faun-Erotik und Tristan-Problematik bei der Harmonikkonstruktion Debussys eine Rolle gespielt haben könnte, scheint nach dem oben zum Cake walk Ausgeführten durchaus denkbar.])




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