- 235 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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None und großer Undezime weist ihn in seinem obersten Teil auf – als Dominante von Es-Dur lautet dieser: B-D-F-As-Ces-Es. In just dieser Form enthält er die Töne des Themas sowie seiner Begleitung von Takt 10 f.


Es bedarf wohl keiner großen Ausführungen, um verständlich zu machen, weshalb Jürgen darauf verzichtete, auch noch auf diese Beziehung hinzuweisen. Sie überschritte wohl deutlich das, was einem Laien-Publikum zuzumuten ist, zumal die Begleitharmonik zwar in die Tonika aufgelöst wird, aber diese eine ajoutierte None aufweist, die ihrerseits zwar übergebunden, aber eben doch unaufgelöst (Takt 11 f.) bleibt, und – gewissermaßen als umgekehrter Vorgang – die Dominante bereits orgelpunkt- bzw. bordunartig den Grundton Es aufweist. Dennoch ist die Beziehung unserem Spieler ganz klar. Für den, der genau hinhört, ist eine Andeutung versteckt: Die Einleitung, die Jürgen spielte, ist als unbegleitetes Oktavenunisono identisch mit dem unbegleiteten Thema in Takt 10 f. – wie sonst könnte erklärt werden, daß er von Thema im emphatischen Sinne sprach, aber nur die Einleitung spielte?


Exkurs:


Ein Harmoniesystem im Hinblick auf die Terzschichtung über die Fünfklänge hinaus zu erweitern, wie es mit dem Undezimenakkord – einem Sechsklang – soeben gezeigt wurde, wird nicht von allen Autoren gutgeheißen. Immerhin gibt es bei Schönberg in der Harmonielehre ein eigenes Kapitel „Ästhetische Bewertung sechs- und mehrtöniger Klänge“ (Schönberg 1911, S. 458 ff. [491 ff.]) und Alois Hába erwägt im Ernst auch eine Systematisierung der „Terzdezimen“-Akkorde (Hába 1927, S. 35), d. h. von Sept-None-Undezim-Tredezim-Akkorden – auch Harmonik-Klassifizierungen im Jazz-Bereich kennen derlei („Das wäre so’n C-11-plus oder ‘n C-11#-13“...). Darüber hinaus ein System zu erweitern, zumal wenn Alterationen von Akkordtönen oder gar Mehrfachalterationen im Ableitungssystem zugelassen werden, scheint bereits rein logisch nicht sinnvoll. Schon bei einem System mit alterierbaren Siebenklängen ist dann kein noch so beliebiger Akkord denkbar, der sich nicht damit darstellen ließe, d. h. die normative Funktion der deskriptiven Adäquatheit dispariert.


Noch schwieriger wird es mit der funktionalen Bewertung. Bietet schon unser Septklang des Tristan-Vorspiels Probleme der Zuweisung zum Dominant- oder Subdominantbereich, so sind höhere Terzschichtungen noch problematischer. Der Debussy-Klang aus Takt 10 hat beispielsweise mindestens ebenso subdominantischen Anteil wie dominantischen. Die etwa von de la Motte favorisierten funktionellen Bezeichnungen, die Subdominant- und Dominantsymbole vereinen (de la Motte 1976, S. 140 f. u. 182), wären hier ebenfalls in Erwägung zu ziehen (bezeichnenderweise wird auch bei ihm der Tristan-Akkord, genauer: der vermindert-kleine Septakkord mit möglichen Funktionsbezeichnungen aus dem Mollsubdominantbereich wie aus dem Bereich der Verbindung der beiden Funktionen versehen; a. a. O., S. 220). Dennoch bewirkt im Fall des Debussy-Beispiel das B in der linken Hand, daß ein deutlicher Dominantanteil hervortritt. Mit anderen Worten: die in harmonisch einfachen Fällen geltende Ableitungsregel, die es erlaubt, die Oktavlage von Tönen oberhalb der Baßstimme frei zu ändern, ohne daß die funktionale Bedeutung davon berührt würde, gilt nicht uneingeschränkt. (Das deuten auch traditionelle Harmonielehren an, wenn sie darauf bestehen, daß im Nonenakkord die None eine „echte“ None zu sein hat, und nicht etwa durch ein Sekundintervall ersetzt werden darf bzw. wenn sie bestimmte Umkehrungen der Nonenakkorde verbieten.)




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