- 230 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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übermäßige Sekunde f-gis notiert erscheint (und im Gefolge die übrigen Terzen ihre enharmonische Schreibung ändern: aus der kleinen Terz as-ces muß die kleine Terz gis-h und aus der großen Terz ces-es die große Terz h-dis werden), wird aus diesem Septakkord ein Sekundakkord. Mit anderen Worten: ein Akkord, der sich dem Gehör als vierte Umkehrung eines Septakkordes präsentiert (nichts anderes ist die Grundstellung!), wird von Wagner notiert als dritte Umkehrung – mit gleichem Recht kann Harald Schmidt die zweite Umkehrung als die erste ausgeben! Unterstützung in dieser seiner Wagner-Kritik erhält Schmidt durch den Anti-Wagnerianer Debussy, der in seinem Tristan-Zitat, auf das sogleich weiter unten noch einzugehen sein wird, ebenfalls den Akkord in seiner „korrigierten“ Form enharmonisch notiert als f-as-ces-es.

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HZ: – äh – ja!

HS: Und die zweite Umkehrung wäre ein Quintsextakkord...

HZ: Absolut!

HS: ...und dann käme ein Sekundakkord in der dritten Umkehrung*.


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*Hier wird die Schmidtsche Relativierung in der Bezeichnung der Umkehrungen beendet und die dritte Umkehrung als das bezeichnet, was sie – gewissermaßen „absolut“ gesehen – ist!


Der plötzliche Wechsel von der insbesondere im deutschsprachigen Raum dominierenden Funktionsharmonik, die in der Nachfolge Hugo Riemanns steht und die in der durch Wilhelm Maler modifizierten Form dort weiteste Verbreitung erfuhr, zur Terminologie der (älteren) Stufentheorie, die ihrerseits in den angelsächsischen Ländern durch die dortige Verbreitung der Schenkerschen Theorie indirekt überlebt, bedarf im Zusammenhang mit dem Tristan-Akkord des Kommentars. Es ist nämlich keinesfalls so, daß diese Vermischung der Theorien als Schmidtsche Nachlässigkeit oder Unentschiedenheit zu deuten ist, sie ist vielmehr Zeichen seiner musiktheoretischen Fortschrittlichkeit (die, wie der Beginn der Abhandlung zeigt, sogar die Kenntnis des harmonietheoretischen Vokabulars der Unterhaltungs- und Jazz-Musik einschließt). Neben Schmidt bedienen sich auch Autoren wie Diether de la Motte, die mit aller Deutlichkeit die Forderung nach einer historisch differenzierten Harmonielehre erhoben haben, – wenn es die Sache erfordert – einer Verbindung der Systeme (de la Motte 1976, S. 113). Daß sich hierbei die „Restauration“ als „Fortschritt“ erweist, ist – Adornitisch gesprochen – ein durchaus dialektisches Motiv. Beide Theorien unterscheiden sich nicht nur in den unterschiedlichen Bezugspunkten der Akkordbeschreibung (Baßton- versus Grundtonorientiertheit), sie sind – in Termini moderner Linguistik gesprochen (Grewendorf/Hamm/Sternefeld 1987, S. 40 u. 461) – verschieden auch im Hinblick auf ihre deskriptive und explanative Adäquatheit. So hat die Stufentheorie ihren „blinden Fleck“ etwa bei der hörenden


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