- 222 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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vielleicht anspruchsvollstes Beispiel das Kurthsche Buch über die Harmonik der Romantik (Kurth 1920 bzw. Kurth 1923) zu nennen, aus jüngerer Zeit der Essay von Poos (Poos 1987).

Gewissermaßen als eine Zwischenform wären jene Ausführungen zu nennen, die sich zwar nicht auf die gesamte Tristan-Harmonik beziehen, wohl aber auf einen größeren Teil des Vorspiels, insbesondere auf die Sequenzierungen der Anfangsphrase (Adorno 1963a, S. 552 oder Poos 1970).


Ein zweiter Gesichtspunkt, nach dem sich das Tristan-Akkord-Schrifttum unterscheiden läßt, ist das jeweilige Verständnis dessen, was unter Erklärung des Akkordes verstanden wird. Am häufigsten wird dabei bereits als Erklärung angesehen, wenn es gelingt, ihn im Rahmen des jeweiligen, von betreffenden Autor vertretenen musiktheoretischen Systems – im wesentlichen Systeme der sog. Stufentheorie bzw. der funktionellen Harmonielehre, seltener der Generalbaßlehre –, als zulässige, d. h. aus den Regeln ableitbare Struktur auszuweisen. Eine zweite, andere Form der Erklärung sind jene Versuche, die darüber hinausgehen und plausibel machen wollen, wie Wagner überhaupt dazu kam, jenen Akkord zu erfinden, und die danach fragen, was er harmonisch bedeuten könnte. (Hierzu müßte die implizite Wagnersche Harmonietheorie inclusive ihres Zusammenhangs wie auch ihrer Differenzen zur zeitgenössischen „traditionellen“ Musik­theorie rekonstruiert werden. Daß jene aus den Quellen nur in spekulativer Weise zu gewinnen wäre, macht die besondere Schwierigkeit eines solchen Unterfangens aus; zudem kann keineswegs als selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, daß zeitgenössische Theorie stets auch an die von ihr behandelten Phänomene heranreicht, vgl. Kühn 1999.)

Die Unterscheidung dieser beiden Arten des Erklärens hat Adorno (unter dem Pseudonym Hektor Rottweiler) schon früh in einem Text deutlich gemacht, den er allerdings – wir wissen nicht weshalb – zur Wiederveröffentlichung nicht freigegeben hat: „Was vermag wohl die herkömmliche, ‚allgemeine‘ Harmonie­lehre an den Anfangstakten des Tristan zu lehren? Sie nimmt die harmonisch charakteristischen Noten, im zweiten Takt dis und gis, im dritten ais, als bloß zusätzliche Alteration und als rasch gelösten Vorhalt zum Terzquartakkord der zweiten Stufe und als Vorhalt zum Dominantseptimenakkord von a-moll: das P h ä n o m e n aber, die beiden Klänge f-h-dis-gis und e-gis-d-ais, die die ganze Musik revolutioniert haben, bleiben ungeklärt; allenfalls werden sie durch Hinweis auf chromatische Stimmführung kontrapunktisch – aber gerade nicht h a r-m o n i s c h gedeutet. Diese Klänge aber und nicht das fragwürdige etwas ,wofür‘ sie stehen, müßten erklärt werden; s i e sind das Wesentliche und ihre Auflösungen bloße Akzidentien.“ (Adorno 1935, S. 13.) Diese nahezu auf die Ablehnung einer Unterscheidung der sog. selbständigen Akkorde von durch harmoniefremde Töne bestimmten Zusammenklängen hinauslaufende Vorstellung Adornos kommt Schönbergs Ansichten in dessen Harmonielehre recht nahe. Es heißt dort – was durchaus im Blick auf eine Rechtfertigung des eigenen Komponierens zu verstehen ist –: „Harmoniefremde Töne gibt es entweder


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