Dichters mit der realen sozialen Einsamkeit in der Figur des
Bettlers aufeinander. Schuberts Musik wirkt wie erschrocken, „die
in Einförmigkeit gefesselte Deklamation der Stimme“21
drückt dies ebenso aus wie die nahezu brutale Realität in
der Kopie der Drehleiermusik.
Das
Hörspiel beginnt mit dem Lied Nr. 24, das im Klang zunehmend
vereist und kälter gemacht wird (zur Technik s. u.). Als
verbindendes Element dient die für die Drehleier so
charakteristische Bordunquinte: Sie wird – ebenso wie kurze
Zitate der Drehleierfigur – zum Leitmotiv des Hörspiels
und hilft als Modulation bei Übergängen zu anderer
Liedzitaten. Die Idee der Drehleier wurde zusätzlich in Form
eines Zufallsprogramms aufgenommen, das „Eiszapfenklänge“
abspielt und ähnlich wie ein Eisregen klingt.
Glücklicherweise besaß
die Arbeitsgruppe eine originale Drehleiermelodie aus der Zeit
Schuberts, die im Alpenvorland verbreitet war.22
22
Drehleiereinspielung enthalten in Spielpläne Musik 2,
Schülerbuch, Klett-Verlag Stuttgart 1991, Tb 67a auf
zugehöriger CD IV, Track 12.
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Dieses Drehleier-Tonbeispiel wurde als Repräsention des realen
Bettlers genommen, dem Schubert im Hörspiel begegnet. Das
Drehleier-Zitat wird mit zunehmender Verhallung und Echo mehrfach
wiederholt – als wanke der Boden unter den Füßen
Schuberts, als verschwimme aus Angst vor dem Nichts die Realität.
Aus dieser (Klang-)Begegnung erwächst dann das Originalzitat des
Schlusses von Nr. 24: „... willst zu meinen Liedern deine
Leier drehn?“ Fischer-Dieskau singt diese Passage fast drohend
und grell – als wolle Schubert dem drohenden Elend trotzen. Der
Schlußteil des Liedes Nr. 24 steht am Ende des Hörspiels
und bricht vor dem Schlußakkord ab. In der entstehenden Pause
ist stockend das Wort des Sprechers zu hören: ... „meine
Leier drehn?“ – als verwandele sich Apolls Leier nun zum
Bettelinstrument.
Nr.
3 Gefrorne Tränen: Traurigkeit, glühende
Empfindung gepaart mit Enttäuschung, Verletzung und Trotz (zum
Schluß) schwingt in diesem Text mit. Ist es enttäuschte
Liebe? Wer ist die Person, die da spricht? Wir erfahren es nicht. Es
vermittelt sich der Eindruck einer intrapsychischen Momentaufnahme
des enttäuschten Jedermann, des Menschen allgemein. Mit ihren
Vorhalten und Seufzern bestätigt die Melodie diese Vermutung.
Stockend verharrt die Klavierbegleitung, die das Tropfen der Tränen
symbolisiert, aber auch die Erstarrung, die Resignation und die
Orientierungslosigkeit in dieser Situation.
Didaktische
Interpretation bedeutet nicht Reproduktion des Werkes mit anderen
Mitteln, sondern schafft zum Werk eine zweite Ebene: eine
Deutungsschicht, die die Kenntnis des Werkes selbst voraussetzt und
zugleich von ihr abhängt. Im Hörspiel ist es ein Spiel mit
den Facetten des Wiedererkennens und den Verknüpfungen des
Materials.
Daher wurde in unserem Hörspiel
nur die Begleitung Takt 1–20 genommen und per MIDI eingespielt,
zunächst abgespielt mit einem Glasharmonika-Klang (Kühle),
dann mit einem zarten Salizional-Klang wiederholt, dessen Attack sehr
langsam anlief (Stocken). Der Text der ersten Zeile erscheint
gesprochen überlagert und wird zuletzt auf die versonnen
geflüsterten Worte „gefrorne Tränen“ reduziert
– Konzentration auf das Symbol war dabei der
Leitgedanke.
Nr.
4 Erstarrung: „Ich such im Schnee vergebens nach
ihrer Tritte Spur ...“ – Atemlosigkeit, Gehetztsein
vermittelt die Begleitung. Das Lied wirkt wie eine Fortsetzung von
Nr. 3, doch nun steht das Bild der Winternatur im Mittelpunkt des
Textes: die Blumen sind erstorben, die Blüten verschwunden, das
Gras blaß – eine Szene, in der der Wanderer sich trotz
seiner Eile zum Punkt in der kahlen weißen Winterlandschaft
verwandelt. „Wenn meine Schmerzen schweigen, wer sagt mir dann
von ihr?“ Die Agonie in der realen Kälte wird zum
Sinnbild der Agonie durch zurückgewiesene oder vergessene
Liebe.
Das
Symbol der Erstarrung – der Natur wie der Gefühle –
vermitteln im Hörspiel kalte Synthesizerklänge, die als
Atmosphäre fast unterschwellig gegenwärtig sind und auch
allein Stellen
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