Kunst als
artifizieller Fähigkeit ebenso wie als Kunde – und zwar
als Kunde und Kenntnis von der Beschaffenheit und Bedeutung
einer Bewegung.
Dies
erahnt zu haben, darf als ein Aspekt gewertet werden, der Eduard
Hanslick heute höchst aktuell erscheinen läßt
und der geeignet sein dürfte, einer Kreativitäts- und
Improvisationspädagogik in der Musikerziehung – und noch
viel mehr in der Musiktherapie – neue Wege zu ebnen.
2. Bewegungsbeobachtung zur
Überprüfung von Musikbeurteilung und Anbahnung einer
erfahrungsorganisierenden Musik- und Selbstwahrnehmung und
musikalischen Erlebnisvertiefung
In der
Musiktherapie und vor allem in der Musikmedizin, die großenteils
von Nichtmusikern propagiert wird, hat es sich als bequeme Marotte
durchgesetzt, zwischen ergo- und trophotroper Musik zu unterscheiden.
Wie schlichtweg falsch solche Unterscheidungen oftmals getroffen
werden, läßt sich an dem Buch von Decker-Voigt (1999, S.
74 ff.) und an zur Vermarktung solcherart etikettierter Musik-CDs in
seiner eigens dafür gegründeten Firma demonstrieren. Als
Merkmal ergotroper Musik werden z. B. Dur-Tonarten angegeben,
obgleich sowohl klassische Musik wie etwa das beliebte
A-Dur-Klavierkonzert von Mozart als auch die gesamte aktuelle
Hitparade von Begräbnis-Popmusik3
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Veröffentlicht in Focus 10/1999 (8. März), S. 236.
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ausschließlich in Dur gehalten sind, wohingegen etwa Smetanas
Moldau oder ein so lebenslustiges Tanzlied wie Sascha liebt
nicht große Worte oder Lieder wie Heiß brennt die
Äquatorsonne, Alle, die mit uns auf Kaperfahrt fahren,
Joshua fit the battle of Jericho, Hava nagila, Und
der Haifisch der hat Zähne oder der den harten Mann
symbolisierende erste Teil von Ich schieß’ den Hirsch
u. v. a. m. in Moll stehen. Unter „Merkmale trophotroper Musik
und ihre Wechselwirkung mit der Psycho-Physis des Hörers“
nennt Decker-Voigt entsprechend Molltonarten. Sinnigerweise werden
aber als einzige Beispiele die in Dur stehenden und charakterlich
entgegengesetzten Lieder Schlafe, mein Prinzchen und das
geradezu von Lebenslust sprühende Bunt sind schon die Wälder
(mit dem Text: „Flinke Träger springen, und die Mädchen
singen, alles jubelt froh... Junge Winzerinnen winken und beginnen
frohen Erntetanz“) vorgestellt, noch dazu mit einer graphischen
Veranschaulichung, die weder mit dem rhythmischen und melodischen
noch mit dem energetischen Duktus in irgendeiner Weise übereinstimmt.
Zwar stehen beide Lieder im 6/8-Takt. Doch ist für deren
unterschiedliche Wirkung das Tempo entscheidend (de la Motte 1967).
Da auch die übrigen dort genannten Parameter sich so einfach
nicht charakterisieren lassen, erscheint es angezeigt, sich die
Komplexität von Wahrnehmungsarten und Wirkungsstrukturen von
Musik und diesbezüglichen Reaktionsmustern zu vergegenwärtigen.
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