- 129 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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Die in eckige Klammern gesetzte Passage, in der Wagner Gedanken über die Entstehung von Musik und Sprache äußert, läßt sich aus Zeitgründen evtl. aussparen. Sie ist aber zum tieferen Verständnis der Problematik hilfreich und im übrigen hochinteressant.


Frage:

Herr Wagner, man hörte, Sie hätten kürzlich ein gesprochenes Schauspiel über Friedrich Barbarossa entworfen, diesen Plan aber wieder fallen gelassen. Ihre bisherigen Ideen haben Sie als Oper realisiert, also mit Musik. Warum genügt es Ihnen nicht, ein Schauspiel zu schreiben? Welche Rolle spielt die Musik in Ihrem Werk?


[Wagner:

Unser Drama ist ein Appell an den Verstand, nicht an das Gefühl. Der moderne Dichter kann sein ganzes Vorhaben nur durch das Mitteilungsorgan des kombinierenden Verstandes, durch die ungefühlvolle moderne Sprache erreichen.

Frage:

Sie sagen „moderne Sprache“. Demnach gab es einmal eine Sprache, die gefühlvoll war?

Wagner:

Das ursprüngliche Äußerungsorgan des inneren Menschen ist die Tonsprache, als unwillkürlicher Ausdruck des inneren Gefühls. Eine ähnliche Ausdrucksweise, wie die, welche noch heute einzig den Tieren zu eigen ist, war jedenfalls auch die erste menschliche; und diese können wir uns jeden Augenblick ihrem Wesen nach vergegenwärtigen, sobald wir aus unserer Wortsprache die stummen Mitlaute ausscheiden und nur noch die tönenden Laute übrig lassen. In diesen Vokalen, wenn wir sie uns von den Konsonanten entkleidet denken, und in ihnen allein den mannigfaltigen und gesteigerten Wechsel innerer Gefühle nach ihrem verschiedenartigen, schmerzlichen oder freudvollen Inhalte, kundgegeben vorstellen, erhalten wir ein Bild von der ersten Empfindungssprache der Menschen, in der sich das erregte und gesteigerte Gefühl gewiß nur in einer Fügung tönender Ausdruckslaute mitteilen konnte, die ganz von selbst als Melodie sich darstellen mußte.

Frage:

Wenn ich mir vorstelle, die Menschen könnten sich nur wie ein Hund oder ein Vogel verständigen, wäre ich nicht zufrieden. Es gäbe dann gar keine Kultur und Zivilisation, keinen geistigen Austausch. Aus welchem Grund ist unsere moderne Sprache entstanden?

Wagner:

Um die äußeren Gegenstände nach ihrer Unterscheidung zu bezeichnen und sich über sie mitzuteilen, mußte das Gefühl den tönenden Laut auf eine dem Gegenstand entsprechende Weise in ein unterscheidendes Gewand kleiden. Dieses Gewand wob die Tonsprache aus stummen Mitlauten; die so bekleideten Vokale bilden die Sprachwurzeln, aus deren Zusammenstellung das ganze Gebäude unserer unendlich verzweigten Wortsprache errichtet ist. Je verwickelter und vermittelnder aber endlich die Wortsprache verfahren mußte, um Gegenstände und Beziehungen zu bezeichnen, je mehr sie hierzu die ursprüngliche Bedeutung nur noch zu denkender, nicht mehr zu fühlender Bedeutung hinaufschrauben mußte, desto widerspenstiger und fremder wurde sie gegen jene Urmelodie, an die sie endlich selbst die entfernteste Erinnerung verlor, als sie sich atem- und tonlos in das graue Gewühl der Prosa stürzen mußte.

Frage:

Sie behaupten also, wir könnten in unserer Sprache keine Gefühle ausdrücken.]


Wagner:

Unser Gefühl, das sich in der ursprünglichen Sprache unbewußt ganz von selbst ausdrückte, können wir in der prosaischen Wortsprache nur beschreiben, und zwar auf noch bei weitem umständlichere Weise, als einen Gegenstand des Verstandes. Wir können unsere Empfindungen in ihr nur dem Verstand, nicht aber dem zuversichtlich verstehenden Gefühl mitteilen; und ganz folgerichtig sucht sich daher in unserer modernen Entwicklung das Gefühl aus der absoluten Verstandessprache in die absolute Tonsprache, unsere heutige Musik, zu flüchten.

Frage:

Sie sagen: „heutige Musik“. Was meinen sie damit?

Wagner:

In ihrer Einsamkeit hat die von der Dichtkunst gänzlich abgesonderte Musik sich ein Organ gebildet, welches des unermeßlichsten Ausdrucks fähig ist, und dies ist das Orchester. Die Tonsprache Beethovens ist ein ganz neues Moment für das dramatische Kunstwerk. Das Orchester ist sozusagen der Boden unendlichen, allgemeinsamen Gefühls, aus dem das


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