Wonne, als in immer
traulicherer Nähe die göttliche Erscheinung vor den
verklärten Sinnen sich ausbreitet; und als endlich das heilige
Gefäß selbst in wundernackter Wirklichkeit entblößt
und deutlich dem Blicke des Gewürdigten hingereicht wird; als
der »Gral« aus seinem göttlichen Inhalte weithin die
Sonnenstrahlen erhabenster Liebe, gleich dem Leuchten eines
himmlischen Feuers, aussendet, so daß alle Herzen rings im
Flammenglanze der ewigen Glut erbeben: da schwinden dem Schauenden
die Sinne; er sinkt nieder in anbetender Vernichtung. Doch über
den in Liebeswonne Verlorenen gießt der Gral nun seinen Segen
aus, mit dem er ihn zu seinem Ritter weiht: die leuchtenden Flammen
dämpfen sich zu immer milderem Glanze ab, der jetzt wie ein
Atemhauch unsäglichster Wonne und Rührung sich über
das Erdental verbreitet, und des Anbetenden Brust mit nie geahnter
Beseligung erfüllt. In keuscher Freude schwebt nun, lächelnd
herabblickend die Engelschar wieder zur Höhe: den Quell der
Liebe, der auf Erden versiegt, führte sie von neuem der Welt zu,
den »Gral« ließ sie zurück in der Hut reiner
Menschen, in deren Herzen sein Inhalt selbst segnend sich ergossen:
und im hellsten Lichte des blauen Himmelsäthers verschwindet die
hehre Schar, wie aus ihm sie zuvor sich genaht.5
Der Text erscheint zunächst verwirrend: Zum einen muß man sich in Wagners gewundene Ausdrucksweise erst langsam einfinden, zum anderen ist von der Kunst überhaupt nicht die Rede. Statt dessen spricht Wagner unaufhörlich von religiösen Dingen. Um diesen Text dennoch im Hinblick auf unsere Fragestellung zu verstehen, muß man sich vor Augen halten, daß im 19. Jahrhundert die Kunst vielfach als eine Art Religion verstanden wurde. Setzen Sie deshalb einfach an Stelle religiöser Begriffe Wörter aus dem Bereich der Kunst, also anstelle von „der Gral“ und „das heilige Gefäß“ einfach „die Kunst“. Sie können evtl. Tipp-Ex (Korrekturflüssigkeit) verwenden, um die religiösen Begriffe auszulöschen. Erst jetzt kommen wir einer Antwort auf unsere Frage nach Wagners Verständnis von Kunst und Künstler näher. Jedoch bedarf der Text auch jetzt noch einer genaueren Betrachtung.
Wir werden später zu der einzigartigen Komposition dieses Vorspiels zurückkommen und uns intensiver damit beschäftigen.
2.2 Die Handlung
Wagner, der als einer der wenigen Opernkomponisten alle seine Texte selbst schrieb, benutzte für seinen Lohengrin Elemente aus mittelalterlichen Sagen |