- 107 -Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Vermittelte Musik 
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unbeirrt fort, ohne sich um die Musik zu kümmern. Dann geschieht es auf einmal, daß sie innehalten, den Kopf zu der Klangquelle wenden und mit großen Augen (und Ohren) das Geschehen beobachten (2. Phase der Aufmerksamkeit). Nun geschieht es ganz allmählich, daß die Kinder ihr Babbeln oder ihre Bewegungen irgendwie mit der Musik (den Liedern, Melodien, Rhythmen) in Beziehung bringen, indem sie „mitsingen“ oder auf ihre Weise „antworten“. Dabei geschieht es dann, daß sie für einen Augenblick merken, daß das, was sie tun, anders ist als das, was sie wahrnehmen. Sie verfallen in eine starre Beobachtung und vergessen alles um sich („audiation stare“). Nach einer Weile beginnen sie, zunächst die Bewegungen, dann auch die Rhythmen und Töne zu imitieren (3. Phase der Imitation). Dabei ist es charakteristisch, daß die imitierte Bewegung weder mit sich selbst noch mit der Musik koordiniert ist, vielmehr folgen die eigenen Aktionen immer erst nach einer kleinen Weile den gesehenen oder gehörten. In dieser Phase orientiert sich der Bewegungsfluß noch überwiegend an den kleineren metrischen Unterteilungen, dem Mikro-Beat. Diese ersten drei Phasen bilden die Voraussetzung für die folgenden, in denen sich nun eine musikalische Repräsentation auszubilden beginnt.


Zusammen mit den ersten Imitationen beginnen die Kinder ganz bewußt auf die gehörte Musik zu reagieren. In dem Maße, wie sie gehörte Melodien und patterns imitieren können, bildet und festigt sich ihre innere Vorstellung vom gleichmäßigen Puls (Metrum) und von einem Grundtongefühl. Die Kinder können diese Phänomene nun „auditieren“ (4. Phase der bewußten Reaktionen). Den Begriff der „Audiation“ hat Edwin Gordon (1980) eingeführt, um damit ein wahrnehmungspsychologisches Phänomen zu bestimmen, das darin besteht, sich die Bedeutung einer Sache denkend, d. h. in der abstrakten Vorstellung vergegenwärtigen zu können. Im Unterschied zur Imitation zeigen Kinder, daß sie den Grundton auditieren können, wenn sie ihn als Ergänzung einer Melodie singen können, ohne daß ihn jemand vorgesungen hat. Man kann sagen, daß Audiation für die Musik dieselbe Funktion erfüllt wie das Denken für die Sprache (Gordon 1980). Man kann einen musikalischen Sachverhalt aber nur in dem Maße auditieren, wie er zuvor durch Erfahrung erworben wurde, mit anderen Worten, Audiation bezeichnet nichts anderes als die Aktivation einer zuvor erworbenen mentalen Repräsentation.


In zunehmendem Maße entwickelt das Kind nun die Fähigkeit, tonale und rhythmische Eigenschaften der Musik genauer zu beachten und wiederzugeben. Im gleichen Maße beginnt es auch, seine Bewegungen mit sich zu koordinieren (z. B. durch den richtigen Atem) und die stimmlichen Äußerungen der gehörten Musik anzupassen (5. Phase der Koordination). Erfahrungsgemäß verharrt das Kind relativ lange in dieser Phase und sammelt immer differenziertere Erfahrungen, wird in seinen Äußerungen immer präziser und natürlicher, bis es beginnt, mit den vorgegebenen Materialien improvisierend umzugehen, also die patterns innerhalb eines tonalen und metrischen Rahmens eigenständig umzuformen


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