- 80 -Kim, Jin Hyun: Musikwissenschaft in der Postmoderne 
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aus paradoxerweise die Geisteswissenschaften, indem er das gegebene Erlebnis als die menschliche, geistige Welt vom Erlebnisgegenstand als der physischen Welt unterscheidet. Der Erlebnisinhalt, d. h. das im Erlebnis Gegebene ist Dilthey zufolge nur die menschliche, geistige Welt, die man im Gegensatz zu der Wahrnehmung der physischen Welt in Form des Verstehens erkennt. Sein Begriff des Erlebnisses dient somit wiederum der Verfestigung des Dualismus von Subjektivität und Objektivität.

Wenn verschiedene Akte wie etwa der des Wahrnehmens oder des Verstehens im Erlebnis stattfinden, wird der dabei herangezogene Erlebnisgegenstand auch wahrgenommen oder verstanden. Auf den gleichen physischen Gegenstand wird somit in unterschiedlichen Akten mit unterschiedlichen Erlebnisinhalten Bezug genommen. Dabei steht der objektive Erlebnisgegenstand in enger Beziehung zum subjektiven psychischen Erlebnisinhalt. Die menschliche Erkenntnis, die vom Erlebnis ausgeht, kann demnach weder allein subjektiv noch vom Bewusstsein unabhängig objektiv begründet werden. Der Erlebnisgegenstand kann sowohl in der Form des Verstehens als auch der Wahrnehmung etc. aufgefasst werden.

Die Musikphänomene, die als Forschungsgegenstände der Musikwissenschaft durch unterschiedliche Akte in Betracht gezogen werden, lassen sich durch die verschiedenen empirischen Forschungsmethoden klären. Dies ist insbesondere bei der Erforschung der Musikwahrnehmung festzustellen: Beispielsweise ergibt sich für die Erforschung der musikalischen Zeit-Struktur keine allgemein akzeptable Theorie aus dem Ergebnis der jeweiligen Forschungsbereiche wie Experimentelle Psychologie, Musikethnologie, Musiktheorie und computergestützte Modellierung.6

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Vgl. Seifert, U. / Olk, F. / Schneider, A., On Rhythm Perception: Theoretical Issues, Empirical Findings, in: Leman, M. / Berg, P. (Hrsg.), Journal of New Music Research, Vol. 24, Nr. 2, Swets & Zeitlinger, 1995, S. 164–193, hier: S. 165.
Der neurobiologische Aspekt, etwa das Konzept des Bereichs der Präsenzzeit (etwa drei Sekunden Dauer), kann für die Musikwahrnehmung nicht vollständig übernommen werden, da inhaltliche Kriterien (z. B. tonale Verläufe) zur Bildung von Wahrnehmungseinheiten herangezogen werden, die zeitliche Wahrnehmungsgrenzen in den Hintergrund drängen.7
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Beck, K., Rhythmus und Timing, in: Bruhn, H. / Oerter, R. / Rösing, H., Musikpsychologie. Ein Handbuch, Reinbek: Rowohlt, 1994, S. 464.
Das Feld der Gegenwart bei der Wahrnehmung der europäischen tonalen Musik besteht nicht nur aus Retention und Protention,8
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Retention und Protention sind Edmund Husserls Termini. In seiner Schrift »Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins« (1966) analysiert Husserl die phänomenologische Zeitstruktur am Beispiel der Melodiewahrnehmung. Die Wahrnehmung der Tonfolge setzt nach Husserl die phänomenologische Zeit voraus, die durch das innere Zeitbewusstsein als eine Struktur Jetzt-Vorher-Nachher aufgefasst wird. Die konstitutiven Strukturelemente des inneren Zeitbewußtseins sind die Bedingungen der Möglichkeit, zeitliche Prozesse aufzufassen, das Festhalten des Vergangenen – Retention – und die Erwartung des Zukünftigen – Protention. Anhand der beiden Elemente ist die Gegenwart in Richtung auf ein Vergangenes oder Künftiges zu transzendieren. Bei der Melodiewahrnehmung werden die Jetztpunkte mit fortschreitender Zeit mit der Identifikation des Neuen und der Rückschau mit der Identifikation des zeitlich Zurückliegenden erlebt (siehe das Husserlsche Zeitdiagramm, in: Husserl, E., Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins, 1966, S. 28). Das jeweilige Jetzt der Melodie, das eine kontinuierliche Kette von Retentionen und Protentionen hat, kann sich auf das Konzept des Bereichs der Präsenzzeit beziehen.
sondern auch aus Reproduktion und Antizipation,9
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Reproduktion und Antizipation sind Alfred Schütz’ Termini. Die Begriffe der Reproduktion und Antizipation sind bei Schütz die erweiterten Begriffe der Retention und Protention: Die Erinnerung des mit dem gegenwärtigen Erlebnis nicht direkt zusammenhängenden Vergangenen wird als die Reproduktion bezeichnet; die Erwartung des mit dem gegenwärtigen Erlebnis nicht direkt zusammenhängenden Zukünftigen nennt Schütz die Antizipation (Vgl. Schütz, A., Fragments on the phenomenology of music, in: Music & Man, Vol. 2, Nr. 1/2, Gordon and Breach Science, 1976, S. 5–71, hier: S. 41).
da sich die Einheit der tonalen Musik aus der logischen Struktur ergibt: z. B. für die Wahrnehmungseinheit der Musik

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