- 81 -Kim, Jin Hyun: Musikwissenschaft in der Postmoderne 
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in der Sonatenform spielt die Reproduktion der in der Exposition dargestellten Themen eine wichtige Rolle. Solch eine kausale zeitliche Struktur, in der die logische Antwort und der Anschluss an das Vergangene realisiert werden, erweist sich jedoch als die typische Charakteristik der europäischen tonalen Musik. Im Gegensatz dazu erweitert die ostasiatische Musik den Bereich der Präsenzzeit nicht durch die Elemente wie die Reproduktion und die Antizipation, sondern durch die lineare Kontinuität der Tonfolge. Dieser Charakter der linearen Kontinuität wird durch die Technik des Anschlagens und der Vibration ermöglicht, durch welche zwei Töne nicht vertikal, sondern horizontal aneinander anschließen. Der Verlauf dieser horizontal kontinuierlichen Tonfolge wird durch das langsame Tempo der Musik einheitlich wahrgenommen, da das Feld der Gegenwart, dem die Retention und die Protention innewohnen, durch das langsame Tempo erweitert wird. Das Erlebnis solcher die Kontinuität erweiternden zeitlichen Struktur nennt Thomas Clifton die statische Sukzession (static succession), als deren Beispiele er in der europäischen Musik lediglich das Norte Dame Organum, das die Zeitlosigkeit von Gott symbolisiert, und Ligetis Orgelstück »Volumina«, das absichtlich auf die statische Formbildung abzielt, nennt.10
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Clifton, T., Music as Heard. A Study of applied phenomenology, New Haven 1983, S. 105.
Die gesellschaftliche, kulturelle Betrachtung des Verhältnisses zwischen der logischen zeitlichen Struktur der europäischen tonalen Musik und der rationalen europäischen modernen Denkstruktur einerseits und zwischen der horizontalen, statischen Struktur und der Religion (Konfuzianismus oder mittelalterliches Christentum) andererseits bildet auch eine bedeutende Methode für die Analyse der verschiedenen zeitlichen Strukturen. Die Musikphänomene sind je nach Kontext mit mannigfaltigen Forschungsmethoden zu klären.

Die Aufgabe der Musikwissenschaft, zu explizieren, warum und wie einige Phänomene die Musikphänomene bilden, muss von den verschiedenen Forschungsbereichen – u. a. auch naturalistisch – erfüllt werden: z. B. durch die Neurophysiologie, die Psychoakustik, die Sozialpsychologie, die Kognitionswissenschaft, die Soziologie, die Anthropologie und die Geschichtswissenschaft etc. Die Musikwissenschaft, die über die Grundlegung für die moderne Geisteswissenschaft hinausgehend durch den Methodenpluralismus transdisziplinär betrieben wird,11

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Vgl. Bruhn, H. / Rösing, H., Musikwissenschaft, in: dies. (Hrsg.), Musikwissenschaft. Ein Grundkurs, Reinbek: Rowohlt, 1998, S. 9–20; Rösing, H., Systematische Musikwissenschaft. Ausgewählte Beispiele zu Inhalten und Methoden eines multidisziplinären Fachs, in: Acta Musicologica, 65, 1993, S. 51–73; Jiránek, J., Innerdisziplinäre Beziehungen der Musikwissenschaft, in: Systematische Musikwissenschaft, Bd. 1/2, 1993, S. 128–130; Seifert, U., Systematische Musikwissenschaft als Grundlagenforschung der Musik, in: Systematische Musikwissenschaft, Bd. 1/2, 1993, 195–223; ders.: Systematische Musikwissenschaft in Lehre und Forschung. Ziele und Methoden, in: Fetthauer, S. u. a. (Hrsg.), Die Standortpresse. Kulturwissenschaften in der Standortdiskussion, Hamburg: von Bockel, 1995, S. 73–86.
würde sich somit als eine den vielfältigen Aspekten der gegenwärtigen Musikphänomenen gerecht werdende, zeitgemäße Fachdisziplin erweisen.


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