in der Sonatenform spielt die Reproduktion
der in der Exposition dargestellten Themen eine wichtige Rolle. Solch eine
kausale zeitliche Struktur, in der die logische Antwort und der Anschluss an das
Vergangene realisiert werden, erweist sich jedoch als die typische Charakteristik der
europäischen tonalen Musik. Im Gegensatz dazu erweitert die ostasiatische Musik den
Bereich der Präsenzzeit nicht durch die Elemente wie die Reproduktion und
die Antizipation, sondern durch die lineare Kontinuität der Tonfolge. Dieser
Charakter der linearen Kontinuität wird durch die Technik des Anschlagens und der
Vibration ermöglicht, durch welche zwei Töne nicht vertikal, sondern horizontal
aneinander anschließen. Der Verlauf dieser horizontal kontinuierlichen Tonfolge
wird durch das langsame Tempo der Musik einheitlich wahrgenommen, da
das Feld der Gegenwart, dem die Retention und die Protention innewohnen,
durch das langsame Tempo erweitert wird. Das Erlebnis solcher die Kontinuität
erweiternden zeitlichen Struktur nennt Thomas Clifton die statische Sukzession
(static succession), als deren Beispiele er in der europäischen Musik lediglich das
Norte Dame Organum, das die Zeitlosigkeit von Gott symbolisiert, und Ligetis
Orgelstück »Volumina«, das absichtlich auf die statische Formbildung abzielt,
nennt.10
Clifton, T., Music as Heard. A Study of applied phenomenology, New Haven 1983, S. 105.
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Die gesellschaftliche, kulturelle Betrachtung des Verhältnisses zwischen der logischen
zeitlichen Struktur der europäischen tonalen Musik und der rationalen europäischen
modernen Denkstruktur einerseits und zwischen der horizontalen, statischen Struktur
und der Religion (Konfuzianismus oder mittelalterliches Christentum) andererseits bildet
auch eine bedeutende Methode für die Analyse der verschiedenen zeitlichen Strukturen.
Die Musikphänomene sind je nach Kontext mit mannigfaltigen Forschungsmethoden zu
klären.
Die Aufgabe der Musikwissenschaft, zu explizieren, warum und wie einige Phänomene
die Musikphänomene bilden, muss von den verschiedenen Forschungsbereichen –
u. a. auch naturalistisch – erfüllt werden: z. B. durch die Neurophysiologie,
die Psychoakustik, die Sozialpsychologie, die Kognitionswissenschaft, die
Soziologie, die Anthropologie und die Geschichtswissenschaft etc. Die
Musikwissenschaft, die über die Grundlegung für die moderne Geisteswissenschaft
hinausgehend durch den Methodenpluralismus transdisziplinär betrieben
wird,11
Vgl. Bruhn, H. / Rösing, H., Musikwissenschaft, in: dies. (Hrsg.), Musikwissenschaft. Ein
Grundkurs, Reinbek: Rowohlt, 1998, S. 9–20; Rösing, H., Systematische Musikwissenschaft.
Ausgewählte Beispiele zu Inhalten und Methoden eines multidisziplinären Fachs, in:
Acta Musicologica, 65, 1993, S. 51–73; Jiránek, J., Innerdisziplinäre Beziehungen der
Musikwissenschaft, in: Systematische Musikwissenschaft, Bd. 1/2, 1993, S. 128–130; Seifert,
U., Systematische Musikwissenschaft als Grundlagenforschung der Musik, in: Systematische
Musikwissenschaft, Bd. 1/2, 1993, 195–223; ders.: Systematische Musikwissenschaft in Lehre
und Forschung. Ziele und Methoden, in: Fetthauer, S. u. a. (Hrsg.), Die Standortpresse.
Kulturwissenschaften in der Standortdiskussion, Hamburg: von Bockel, 1995, S. 73–86.
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würde sich somit als eine den vielfältigen Aspekten der gegenwärtigen Musikphänomenen
gerecht werdende, zeitgemäße Fachdisziplin erweisen.
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