- 92 -Kietz, Nicola: Musikverstehen und Sprachverstehen 
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Beim Aufbau einer metrical structure, die im Beispiel durch Punkte dargestellt ist, wird der musikalischen Passage ein hierarchisches Muster an starken und schwachen Betonungen zugewiesen. Eine Betonung ist dabei um so stärker, je mehr Punkte sie im Endeffekt auf allen Ebenen zusammen besitzt (die stärksten Betonungen im Beispiel sind auf Zählzeit 1 der Ebene der punktierten ganzen Noten). Die well-formedness rules garantieren auch auf dieser Strukturebene einen hierarchischen Aufbau sowie den gleichmäßigen Abstand zwischen den Betonungen, der einem Mitklatschen auf Ebene der punktierten Ganzen, der punktierten Halben und der punktierten Viertelnoten entsprechen würde. Die preference rules wählen Zählzeiten für starke Betonungen aus und berücksichtigen Interaktionen mit der grouping structure, die für die Wahl mit ausschlaggebend sein können.

Der dritten Art der Strukturanalyse - der time-span reduction - legen Lerdahl/Jackendoff folgende psychologische Hypothese zugrunde: "a. Pitch-events are heard in a strict hierarchy [...].
b. Structurally less important events are not heard simply as insertions but in a specified relationship to surrounding more important events."
(Lerdahl/Jackendoff 1983, S. 106)

Stoffer (1981) hat diese Hypothese empirisch nachgewiesen.

Die Schenkersche Analysemethode (s. S. 34) und ihre Idee einer Hierarchie struktureller Wichtigkeit, die aus jeder tonalen Komposition abgeleitet werden kann, steht im Einklang mit der o.g. Hypothese und hat Lerdahl/Jackendoff für die Entwicklung der time-span (und prolongational) reduction in vieler Hinsicht Pate gestanden. Im allgemeinen wird auf Basis der grouping und metrical structure und in Abhängigkeit von musiktheoretischen Regeln (die in well-formedness und preference rules unterteilt werden) aus jeder Gruppe das strukturell wichtigste Ereignis ausgewählt, von dem alle anderen dieser Gruppe nur Erweiterungen (elaborations) darstellen. Durch Wiederholung dieses Vorganges auf den nächsthöheren hierarchischen Ebenen entsteht ein Skelett der strukturell wichtigsten Ereignisse einer musikalischen Komposition/ Passage, das in Form eines Baumdiagrammes wiedergegeben wird (s. Abb. 33).

Dieser Baum darf nicht mit einer linguistischen Konstituentenstruktur gleichgesetzt werden (s. Abb. 7, S. 19), da bei jener in Kopfposition der vollständige Satz steht, dessen Subkonstituenten Teile von ihm sind, während im vorliegenden musikalischen Baum eine wiederholte Selektion von Alternativen dargestellt wird und in Kopfposition nur ein kleiner Ausschnitt des Ganzen steht.


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