- 107 -Kietz, Nicola: Musikverstehen und Sprachverstehen 
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Dies könnte eine interessante Perspektive für weitere Forschungsprojekte abgeben. Ein gezielter Vergleich der psychischen Verarbeitungsvorgänge von zeitlich strukturierten Ereignissen unterschiedlicher Art (Sprache, Musik, Tanzschrittfolgen, etc.) brächte vielleicht neue oder ergänzende Erkenntnisse im Hinblick auf eine psychologisch fundierte Musik- bzw. Sprachpädagogik.

Auch für den therapeutischen Bereich wäre das Wissen um ähnliche Verarbeitungsstrategien von Musik und anderen zeitlich strukturierten Ereignissen sehr nützlich. Eine Vorahnung therapeutischer Behandlungsmöglichkeiten bekommt man, wenn man die Beobachtungen des Neuropsychologen Oliver Sacks reflektiert:

"Novalis führte aus, daß jede Krankheit ein musikalisches Problem, die Heilung eine musikalische Auflösung sei. Man findet diese Idee buchstäblich und erstaunlicherweise bei Patienten mit Parkinsonismus und postencephalitischem Syndrom

postencephalitsch = auf eine Gehirnentzündung folgend

bestätigt. Es gibt Patienten, die unfähig sind, einen einzigen Schritt zu gehen, aber mit vollendeter Leichtigkeit und Anmut tanzen können. Und es gibt Patienten, die kein Wort auszusprechen vermögen, jedoch mühelos singen und dabei in die Musik das richtige Maß und die Vielfalt der Intonation, das ganze Gefühl, das erforderlich ist, legen. Man entdeckt Patienten mit verkrampfter oder zittriger Mikroschrift, die - ganz plötzlich - "hineinkommen" in das, was sie tun, und dann mit ihrer gewohnten Geschmeidigkeit und ihrem Stil schreiben und genau das wiedererlangen, was Luria die "kinetische Melodie" des Schreibens genannt hat." (Sacks 1991, S. 336)

In einer ersten Annäherung kann man Musik in all diesen Fällen als "inneren Schrittmacher", als "Metronom" beschreiben, das auf wirksame Art und Weise zu strukturieren vermag, wo andere abstrakte Formen von Organisation ausgefallen sind. Anders ausgedrückt: Musik kann - wie die Beobachtungen zeigen - selbst bei Patienten mit schweren kognitiven Ausfällen die Rolle einer Ersatzstrategie übernehmen und dabei u.a. auch sprachliche bzw. sprechmotorische Defizite ausgleichen.

Weiterführende empirische Untersuchungen sind jedoch nötig, um solche eher am Rande entdeckten Phänomene systematisieren zu können. Im Zuge dessen müßte gerade auch der genaue Zusammenhang zwischen Perzeption und Produktion thematisiert werden, der in der vorliegenden Arbeit noch außer acht gelassen wurde. Außerdem wird die Erfassung von Regelhaftigkeiten im gemeinsamen


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