- 93 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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stehender Zentren derartigen künstlerischen Tuns. Allerdings insoweit es sich um die Art des Bezogenseins von Individuum, Bund und Massenorganisation handelt, kann man eine weitgehende Ähnlichkeit unter den heutigen Menschen feststellen. Im übrigen aber ist weder Einheit noch Einheitskultur vorhanden, weder eine mittelalterliche Universalkirche noch auch ein weltanschaulich-gesellschaftliches Gebilde, das an ihre Stelle getreten wäre. Und auch in dieser Hinsicht behält das Individuum seine Bedeutung, als es wenigstens in einer Anzahl von Exemplaren in der Lage ist, sich zwischen mehreren möglichen Gebilden und Weltanschauungen zu entscheiden und selber Stellung zu nehmen. Dementsprechend existiert denn auch nicht etwa der Tonfilm und das Sendespiel, die für unsere Zeit etwa in dem Sinne repräsentative Bedeutung hätten, wie die Gotik für das Hochmittelalter. Sondern Sowjetrußland hat seine Sender und seine Laufbilder, der Katholizismus verfertigt seine Schallplatten und seine Tonfilme, die Republik verbreitet die propagandistischen Reden ihrer Führer, die Sozialisten lassen am 1.Mai durch die Arbeiterjugend und die Naturfreunde Sprech- und Bewegungschöre ausführen, die ihrer Haltung entsprechen, und immer neue Gruppengebilde werden folgen und mit ihnen immer neue weltanschauliche Inhalte, welche dementsprechend eine Repräsentanz in stets variierten Arten der soeben geschilderten Hauptformen finden werden. Die Möglichkeit, ja die Sicherheit weitgehenden Wettbewerbs ist hiermit gegeben und wird zum mindesten eins im Gefolge haben: Jede Errungenschaft, die in dem einen Kreis gemacht worden ist, wird von den andern, soweit sie sich mit ihrer eigenen Ideologie vereinbaren läßt, aufgegriffen und nachgeahmt werden. Das kann zu einer gewissen Annäherung und zu einem Angleichen der Typen führen, doch hat dieser Prozeß seine Grenze. Die Form wird stets nicht ausschließlich durch die menschliche Verbundenheitsart, sondern auch durch das Inhaltliche der Weltanschauung mitbestimmt werden. Die kolossalen Unterschiede zwischen den letzteren bleiben aber trotz aller Nivellierung bestehen, und die Möglichkeit ist nicht groß, daß sich eine von ihnen, Katholizismus, Sowjetismus, oder welche auch immer es sei, restlos durchsetzen und eine neue Einheitskultur schaffen wird. Die liberale und geistesindividualistische Erbmasse verhindern es, und das Individuum behält seine verbandsbildende Kraft, wie das immer erneute Entstehen von sogenannten Splitterparteien und Sekten beweist. Wenn also die Wahrscheinlichkeit


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