- 92 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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hindurchgegangen ist, wenn sie von letzterer getragen wird und wenn sie als ihr Exponent dasteht. So und nicht anders verhält es sich auch in der neuen Repräsentation der sozialen Wirklichkeit in Gestalt dieses neuen Kunstwerkes: Einzelstimme und Einzelleib können nur wirksam sein, wenn sie sich vom Hintergrund des ganzen Sprech- und Bewegungschores abheben.


Und so haben wir denn hier in der Tat den charakteristischsten künstlerischen Ausdruck heutigen Seins. Vielleicht aber auch noch mehr. Sehen wir zu, inwiefern das der Fall ist. Zu dem Zweck verknüpfen wir die Einsicht, die wir soeben gewonnen haben, mit der Erkenntnis, die uns der historische Überblick in unserm ersten Teil verschaffen konnte. Dann aber sehen wir dies: Im Anfange war auf der ganzen Linie Verbundenheit. Es bestand Verknüpftheit von Weltanschauung und Kunst, von Inhalt der Kunstwerke und Leben, von Individuum und Gruppe, von Darsteller und Publikum, nicht zuletzt aber von Körper, Wort und Klang, von Körperrhythmus, Sprechchor und Musik. Wir lernten die Gründe kennen, die im Laufe der Jahrtausende zu einer Trennung dieser Elemente führten, die einst verbunden waren — und jetzt sehen wir sie plötzlich wieder vereint. Plötzlich? Nein! Denn eine Anzahl von Entwicklungsreihen, die teilweise und zeitweilig getrennt voneinander verlaufen, haben die Genesis des Neuen im Gefolge gehabt und anscheinend eine Wiedererstehung älterer Welten im neuen Kunstwerk gezeitigt. Anscheinend? Nein, nur scheinbar! Denn diese bislang jüngste Gestaltung entspricht gleichzeitig auch einer Welt, die von der ältesten sternenfern ist. Nicht nur wegen der Technik, sondern auch wegen der Art der Bezogenheit von Gruppe und Individuum. Denn voraussichtlich wird letzteres in der Form, in der es wohl zuerst der Nominalismus des ausgehenden Mittelalters und darnach Renaissance, Aufklärung und Liberalismus haben werden lassen, auch in der undogmatischen Welt der neuen Kollektivität seinen Rang beibehalten können. Die Art seiner Auswirkung wird natürlich, wie wir schon mehrfach betonten, eine wesentlich andere werden. Aber auch diese beiden Tatsachen, die Bewertung des Individuums einerseits und die dogmatische Nichtgebundenheit der Welt andererseits, haben ihren künstlerischen Ausdruck gefunden, und zwar die Bedeutung der Persönlichkeit in der Rolle der Einzelstimme im Sprech- und Bewegungschor, auf die wir schon hinwiesen; die dogmatische Nichtgebundenheit dagegen in der Existenz zahlreicher neben- und gegeneinander


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