- 86 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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sei gleichfalls nur angedeutet. Des weiteren sei allem etwaigen Mißverständnis gegenüber noch eins hervorgehoben: Wenn wir jetzt das Wesen der werdenden Kunst herauspräparieren, so ist damit nicht gesagt, daß ihr gegenüber die überkommenen Formen sofort dahin sterben werden. Dem würde schon das Gesetz der Trägheit entgegenarbeiten; es wirkt sich bekanntlich im Sinne eines Beharrens aus, auch wenn die Grundlagen sich gewandelt haben. Desgleichen muß auch in diesem Zusammenhange auf das soziologische Gesetz von Opposition und Nachahmung hingewiesen werden. Schon oft haben wir es ja zitiert. Es lautet ganz generell: Eine Schicht, die gegen eine andere Welt angeht, die noch im Besitz von Macht und Ansehen steht, ahmt trotz aller Gegnerschaft deren Formen nach. Und zwar geschieht es vielfach auch dann noch, wenn auf der Gegenseite die in Frage kommenden Sitten und Formen längst zu schwinden begonnen haben. Und so auch hier. Gewohnheiten und Geschmack von Bourgeoisie und Kleinbürgertum einer voraufgegangenen Epoche werden von den Massen auch dann noch eine gute Weile geschätzt, wenn sie auf der Gegenseite schon längst zurückgetreten sind und wenn gegebenenfalls schon ein eigener neuer Stil da ist. Das wird insbesondere der Rundfunk noch eine geraume Zeit zu spüren haben. Es wird also dies eintreten: Musikformen etwa in der Art Lortzings und Flotows werden in seinen Konzertfolgen noch lange erscheinen müssen. Schließlich ist sicher auch mit einer Tatsache noch zu rechnen: Bestimmte Werke, insbesondere solche, denen der Charakter abstrakter, absoluter oder metaphysischer Musik beigelegt wird, werden nicht restlos vergessen werden. Nicht aber werden sie Ausdruck des Empfindens von Massen sein. Auch durch die stärkste verbreitende Arbeit in Gestalt von volkstümlichen Symphonie- und Kammermusik-Konzerten mit Beethoven-Programmen und ähnlichem wird und kann es nicht erreicht werden. Bleiben werden sie vielmehr ausschließlich als Sache einer kleinen Anzahl. Aber hierum handelt es sich ja nicht bei unserer jetzigen Frage, sondern um diejenige Kunst, die in dem gleichen Sinn, in welchem die Gotik nicht etwa nur zum Dominikaner, sondern überhaupt zum Menschen des Hochmittelalters gehört, dessen reinster Repräsentant jener Bettelmönch ist, so ihrerseits mit dem großstädtischen Menschen der Maschinen und Massenverbände zusammenhängt. Und eine solche Kunst ist allerdings mit Händen zu fassen. Greifen wir also den Faden wieder auf, wo wir ihn fallen ließen, bevor wir diesen negativen


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