- 80 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Tendenz erhält nun aber noch einen Antrieb aus einem Kreise, der auf den ersten Blick nichts mit der Welt zu tun zu haben scheint, die uns augenblicklich beschäftigt. Tatsächlich wirkt sich aber der Sieg der Bürgerlichkeit musikalisch in derselben Richtung aus. Denn er bedeutet gleichzeitig eine Vorherrschaft einer bestimmten seelischen Stellung der Umwelt gegenüber. Der Einzelne erscheint nämlich in dieser liberalen Welt nicht mehr wie im Mittelalter als Vertreter oder als Teil einer metaphysischen Ganzheit, auch nicht in renaissancehafter Weise als einzigartiger Wert, sondern als Produkt wirkender Umwelt. Positivismus, Relativismus und Naturalismus in weltanschaulicher Hinsicht und Impressionismus in formaler Beziehung sind die Repräsentanten dieser Kreise. Die Kreuzung beider Linien aber, nämlich jener spätromantisch-subjektivistischen und der bürgerlich-impressionistischen macht sich in der Kunst in dieser Weise bemerkbar: Es wird nicht mehr versucht, die Idee wiederzugeben, die als hinter der Erscheinung stehend empfunden wird und die in manchen früheren Epochen derart durch den Glauben der vergruppten Menschen erfaßt wurde, daß sie das Verbindende darstellte und daß sie sich ein Symbol schaffen konnte, das allen verständlich war. Ebensowenig wird etwa im Sinne der Renaissance das Einmalige als Ganzes porträthaft zum Objekt der Kunst gewählt. Vielmehr interessiert jetzt die Zufälligkeit der Erscheinung infolge der eben in diesem Falle zusammenwirkenden Faktoren, beispielsweise die Oberfläche eines Gegenstandes in der Beleuchtung, die er gerade in diesem Moment an dieser besonderen Stelle des Raumes erhält. Das erfordert naturgemäß eine Fülle neuer und zwar nicht nur technisch bedingter Ausdrucksmittel; insbesondere ist ein viel reichhaltigeres Kolorit erforderlich, wenn man das Nebeneinander der verschiedenen Lichteindrücke wiedergeben will. Die entsprechenden Erscheinungen in der Musik sind: ganz allgemein der Klangfarbenreichtum des neuen Orchesters und im besonderen die Schaffung immer spezialisierterer Blasinstrumente sowie die hiermit gegebenen Möglichkeiten, stets neue Klangkombinationen zu schaffen und die Aufeinanderfolge nicht ausschließlich in Form einer Fortführung der Melodie, sondern gleichzeitig auch eines Wechsels in der Klangzusammensetzung zu gestalten. Dies impressionistische Orchester von Berlioz, Liszt und Richard Strauß in seinen mittleren Jahren bedeutet nun gleichzeitig hiermit die Zuspitzung der Auflösung der barocken und klassischen Bindungen. Dementsprechend


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