- 78 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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die man schlagwortartig durch diese Ausdrücke charakterisieren kann: Vorherrschen von Großstadt, Bürokratie, Technik und Rationalität einerseits sowie Fehlen der Naturbezogenheit, Nachbarschaft, Führerschaft und Gemeinschaft andererseits. Sie wurde getragen durch jene Altersschicht, bei der diejenigen Einstellungen am stärksten vorherrschen, die den soeben genannten Seinsformen am meisten entgegengesetzt geartet sind. Das aber sind die Jugendlichen. Unter ihnen waren es wiederum speziell die Angehörigen derjenigen Gesellschaftsschicht, die die charakteristischste Vertreterin jener erwähnten Haltungen darstellte. Und das waren die bürgerlichen gemäßigt-liberalen Intellektuellen. Man lehnte nun aber nicht etwa nur die Lebensgestaltung eben dieser Kreise ab, aus denen man selbst entstammte, vielmehr verwarf man grundsätzlich die Existenzart, die der Zeit eigentümlich war, und zwar sämtlicher Stände und Klassen. Dementsprechend konnte man sich auch nicht mit einer der letzteren und mit einem Zukunftsprogramm identifizieren, beispielsweise mit dem Proletariat. Infolgedessen blieb nichts anderes übrig, als vor der heutigen Welt zu fliehen, sei es in Wald und Siedlung, sei es in die Vergangenheit, in die man alles hineinlas, was man schätzte. So gelangte man nicht zuletzt in das Mittelalter, das heißt man lebte im Widerspruch gegen die bürgerlich-kapitalistische Haltung in einer vorbürgerlichen und vorkapitalistischen Welt.


Kein Wunder, wenn man im Gefolge hiervon auch die künstlerische Gestaltung derartiger Einstellungen wieder ausgrub. So entdeckte man den Volkstanz, nicht zuletzt bäuerlicher Herkunft, das Mysterienspiel kirchlich gebundenen vorbourgeoisen Mittelalters, die Vor-Bachsche Musik, teilweise kleinbürgerlich-protestantischer Abstammung und das Hans-Sachs-Spiel vorkapitalistischen Städtetums. Die Rhythmen von Epochen, die Zeit und Muße hatten, und die übersichtliche Kontrapunktik eines Geschlechtes, das ein einfaches und deutlich gegliedertes Dasein führte, schienen auch wieder der Ausdruck des veränderten Menschentums sein zu können, das sich selbst für ungebrochen und naturnahe hielt.


Diese Tatsachen genügen nun aber auch, um uns die Auswirkungen solcher Musikbetätigung verständlich werden zu lassen. Zunächst in negativer Hinsicht, das heißt in bezug auf die Begrenztheit. Denn mit zunehmender Verstädterung muß die Zahl der Menschen abnehmen, die in der Gemächlichkeit jener Rhythmen, in der Übersichtlichkeit


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