- 76 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Geschichte sind vor allem zwei Momente erkennbar: einerseits Individualismus nebst Personenkult renaissancehafter Herkunft, andererseits der Kollektivismus moderner Wirtschaftsorganisation. Die erstgenannte Linie bekundet sich in dem Weg vom Zünftler, der handwerksartig stark gebunden ist, über den Hofbeamten, der noch weitgehend abhängig ist, aber schon als Individualität berufen wird, zum freien Beruf und zum Kult des Stars, dem man Summen zahlt, die im Vergleich mit der Besoldung anderer Leistungen und mit der ökonomisch ungünstigen Lage der meisten Berufsgenossen riesengroß sind. Derartiges geschieht, weil er beispielsweise das hohe C singen kann und weil man darin eine Kunst erblickt, die stark zu bewerten sei. Die zu zweit genannte Tendenz äußert sich dagegen in dem Absterben der Boheme, die regellos dahinlebte, sowie in dem Bestreben, “Akademiker” zu werden, das heißt also nicht als Einzelperson, sondern als abgestempelter Diplombesitzer zu gelten, sowie in der Tatsache, daß allmählich sozusagen restlos alle Arten von Musikern irgendwie organisiert sind. Hiermit ist aber auch eins klargeworden: Von jener Verbundenheit zwischen Künstler und Gesamtheit, die noch zur Frage stand, läßt sich in keiner Weise mehr reden, nicht nur, wie wir vorher sahen, weil eine kunsttragende Gesamtheit gar nicht mehr da ist, sondern weil die Künstler auch gar nicht mehr als Repräsentanten der übrigen dastehen, sondern, wie sämtliche übrigen Schichten, mögen sie nun sozial oben oder unten stehen, in der Stellung von Kämpfern für die ökonomischen Interessen ihrer Gruppenmitglieder gegenüber sämtlichen andern, die bei diesem Zwist als Gegenspieler in Frage kommen könnten. Der innere Gegensatz zwischen den beiden Tendenzen, die wir aufwiesen, der individualistischen und der kollektivistischen, zeigt aber gleichfalls deutlich: auch diese Welt ist in Erschütterung geraten. Das Kampfmittel der Ideologie aber, das hierdurch notwendig geworden ist, möge im vierten Unterabschnitt dieses unseres zweiten Teils betrachtet werden.


4. Jede Welt nämlich, die unsicher geworden ist und die gegen Feinde anzukämpfen hat, sucht sich durch eine Ideologie in der Art einer Scholastik zu legitimieren und durch eine Publizistik zu stützen. Im vorliegenden Falle wird diese Funktion durch die sogenannte Musikkritik ausgeübt. Tatsächlich ist sie weitgehenden Maßes eine Musikscholastik geworden. Denn mit zunehmender Geltungsgewinnung und Verakademisierung des Journalismus wurde sie zu einer Abhandlung,


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