- 75 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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miteinander verbunden, seelisch sind sie einander aber ganz fremd. Bei Tisch eine Unterhaltung führen, bedeutet aber dann unter allen Umständen eine Gefahr. Denn entweder redet man aneinander vorbei, indem die Generationen- und Interessenunterschiede ein Verständnis doch unmöglich machen, oder aber die Verschiedenheit der Einstellung kommt wieder zum Vorschein, und neue Konflikte sind da. Aus all diesen Schwierigkeiten wird man nun aber durch den Klang der Radiomusik herausgerissen. Kein Wunder also, wenn sie so beliebt ist. Leicht begreift sich aber auch, warum dabei bestimmte Musikgestaltungen besonders geschätzt werden. Nämlich Schlager sowie entweder ältere barocke oder aber romantische und biedermeierische Kunst. Ersterer entspricht dem Lebenstempo und dem Nervenzustand des heutigen Großstadtmenschen. Die zu zweit genannte Art dagegen bedeutet mit ihrer ruhigen Rhythmik und klanglichen Übersichtlichkeit für einzelne Leute ein Gegengewicht gegen Abgehetztheit und Geräuschechaos der Großstadt. In manchen Kreisen schließlich ist es die nachwirkende kleinbürgerliche Erziehung, die sie veranlaßt, die Sentimentalität und Gemütlichkeit beispielsweise der Oper aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu schätzen. Letzteres gilt auch für große Massen des Proletariats. In bezug auf diese Schichten läßt sich nach allem bislang Gesagten feststellen: Vorläufig verfügt es nicht über eine eigene Kultur und Musik. Begreiflich genug, wenn man seine ökonomische Lage ins Auge faßt sowie die seelische Struktur, die sich als die Folge der Taylorisierung einstellt, auf die wir schon hinwiesen. Wenn man heutige Erscheinungen als proletarische Kunst bezeichnet, so handelt es sich tatsächlich um Bewegungen, die, sozial gesehen, von oben herab, nämlich von Intellektuellen begründet worden sind, ebenso wie seinerzeit die spezifisch bürgerliche Kultur durch deklassierte Adlige und Priester. Und erst die Zukunft wird gegebenenfalls nicht nur eine eigene Seinsform, sondern auch deren neuen Ausdruck bringen. Für die Gegenwart jedenfalls haben wir somit den Beweis erbracht, der noch ausstand, auch jene vierte Art der Verbundenheit, die ursprünglich da war, diejenige nämlich zwischen Ausführenden und Gesamtheit, existiere nicht. Ebenso wie in bezug auf die letzteren läßt es sich nun aber auch noch in Hinsicht auf erstere durchführen.


3.Betrachten wir zu dem Zweck im dritten Unterabschnitt dieses unseres zweiten Hauptteiles die gesellschaftliche Stellung der Tonkünstler, so sehen wir: innerhalb ihrer europäisch-neuzeitlichen


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