- 74 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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macht sich an die größeren musikalischen Werke der Vergangenheit heran, wiederum dem schon mehrfach angeführten Nachahmungsgesetz entsprechend. Auch vom Arbeitergesangverein und von seinesgleichen gilt das nämliche. Denn auch hier handelt es sich nicht um eine spezifisch proletarische Kultur. Vielmehr haben wir auch darin Gepflogenheiten zu erkennen, die einer früheren Epoche und einer sozial privilegierten Schicht entstammen.


Die eigentlichen Ausdrucksformen dieser Zeit sind aber neben der Massensportsensation die neuen musikalischen Formen: Jazz, Kinomusik und Radio. Erstere entspricht dem Klangbedürfnis des Ohres, das durch die Geräusche der Straße und Fabrik bestimmt worden ist. Die an zweiter Stelle genannte Erscheinung verdankt zwar technisch gesehen einer Äußerlichkeit ihre Entstehung. Das Geräusch des Projektionsapparates sollte übertönt werden. Aber mechanische Dinge sind bekanntlich nie entscheidend, wenn nicht schon vorher eine entsprechende Veranlagung da war. Und so ist es auch bei dem vorliegenden Sachverhalte. Das gilt so wie vom Laufbilde im allgemeinen, so auch insbesondere von den Klängen, die ihm beigesellt wurden. Was das erstere anlangt, so sei hier nur soviel gesagt: Das Kino siegte nicht etwa nur wegen der Geschicklichkeit seiner Unternehmer, sondern weil es seinem ganzen Wesen nach den Bedürfnissen des Großstadtmenschen entspricht. Was aber den speziellen Fall betrifft, so ist es hiermit so bestellt. Die Musik des Filmpalastes läuft bekanntlich meist unverbunden neben der abgespielten Handlung einher. Das nämliche fanden wir aber schon bei der Oper vor. Und in der Tat stellt die Kinomusik in dieser Hinsicht nichts anderes dar als eine Potenzierung jener Haltung, die uns schon im Tondrama entgegentrat. Dadurch entspricht sie völlig dem Gespaltensein des Menschen des Zeitalters der Technik. Letztere allein ist es scheinbar ja auch gewesen, die jene Klangform hervorgerufen hat, die wir als dritte neue erwähnten, nämlich den Rundfunk. Aber auch er wäre nicht populär geworden, hätte er nicht vorhandenen Stimmungen entsprochen. Von solchen kommen in diesem Zusammenhange insbesondere in Betracht: das Verlangen des Großstädters ohne Heimat und ohne Bodenbezogenheit nach Raumüberwindung, das Bedürfnis von Mächtegruppen wie Parteien, Kirchen, Gewerkschaften, Vereine usw. nach gleichzeitiger Einwirkung auf große Massen und besonders die innere Fremdheit der heutigen Familienmitglieder. Vor allem wegen der Wohnungsnot sind sie zwar räumlich


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