- 72 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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gegebene Eintönigkeit beispielsweise beim verbürgerlichten Beamten läßt eine ausübende oder auch nur aufnehmende Beschäftigung mit Musik neben dem unbefriedigenden Erwerbsleben als willkommene Abwechslung erscheinen. Ein solches Dasein hat aber bei immer weiterem Zurücktreten des Religiösen trotz oftmaliger Betonung des Glaubens an die Harmonie der Welt und an die Güte der Natur ebensowenig wie die Renaissance ein Zentrum, von dem aus alle Lebenssphären bestimmt werden könnten. Auch hier, und zwar jetzt erst recht, steht also neben einem weltanschauungslosen Dasein eine weltanschauungsfreie Kunst, oder aber eine solche, die einer andersgearteten religiösen Epoche und Haltung entspringt. So nehmen Damen aus den gesellschaftlich führenden Schichten an Passionsmusik-Aufführungen teil, ohne irgendwie jene innere Einstellung zu Jesus von Nazareth zu haben, die für das Werden einer Beziehung zu diesen Kunstwerken vorausgesetzt ist. Vielmehr suchen die herrschenden Kreise sich nicht zuletzt durch Besuch solcher Veranstaltungen von den Gruppen abzuheben, die sozial unter ihnen stehen. Verschiedene Gepflogenheiten sind hierfür charakteristisch: der Abonnementsplatz in der Oper mit ihrer Rang- und Logeneinteilung. Trotz formalem Liberalismus und Demokratismus bleibt sie ja auch in der nachabsolutistischen Zeit bestehen. Ferner das Mitwirken im Musikverein und die Klavierstunde der Haustochter und angehenden Ehefrau, die damals noch berufslos ist. Deren Heiratschancen werden durch eine gewisse musikalische Erziehung gehoben, vorausgesetzt allerdings, daß letztere dilettantisch bleibt und nicht in die gesellschaftlich verpönte Welt des Berufskünstlertums einmündet. Einem Gesetz entsprechend, das schon in anderm Zusammenhange erwähnt wurde, ahmen weitere Schichten derartiges nach, Kleinbürger nicht nur, sondern gelegentlich sogar die Spitzen des Proletariats. Die Erwähnung des letzteren aber führt uns zu der Erschütterung der geschilderten Gesellschaft und zu deren musikalischen Folgeerscheinungen, die sich gerade in unsern Tagen bemerkbar machen.


Auf die liberale Epoche individualistischer Produktion ist eine Zeit neuer wirtschaftlicher Bindungen gefolgt in Gestalt von Preisabmachungen, Kontingentierungskartellen, Ringen, Konzernen und Trusten auf der Arbeitgeberseite sowie in Form von Gewerkschaften zuerst der Handarbeiter, dann der Angestellten, danach der Beamten und schließlich sämtlicher Gruppen auf der Arbeitnehmerseite. Es stehen sich wenige Beherrscher der Produktionsmittel und Massen von Proletariern


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