- 70 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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zu werden, daß jemand einen besonders hohen Ton richtig ansetzt und lange aushält, oder daß eine Koloratur rein vorgetragen wird. Vor allem aber gibt man bei der endgültigen Umgestaltung der Streichinstrumente zur jetzigen Geigenfamilie im Gegensatze zu früher demjenigen Instrument den Vorzug, das die höchste Stimmlage vertritt: der Violine. Dadurch gewinnt man aber gleichzeitig das Mittel, das recht eigentlich geeignet ist, einem weiteren Zeitbedürfnis Ausdruck zu verleihen, demjenigen nämlich, das in unserm Zusammenhange besonders charakteristisch ist. Abermals in ganz anderer Weise als im Mittelalter und im orthodoxen Altprotestantismus der Sündenschuld und des Staatskirchentums kann man sich auch dem Kult des Formal-Individuellen hingeben, das heißt dem Kult des Einzelnen, der sich, ohne die Verbindung mit dem Ganzen ketzerisch aufzugeben, aus der Masse glanzvoll heraushebt. Der musikalische Ausdruck dessen ist nicht nur die Bravourarie, die wir schon im Zusammenhange der Oper erwähnten, sondern und vor allem das Konzert im engeren Sinne des Wortes, das heißt jenes Musikstück, bei dem mehrere, meist aber nur ein einziges Soloinstrument in virtuosenhafter Weise gespielt und vom Gesamtorchester begleitet wird. Innerhalb der Möglichkeiten, die hierbei gegeben sind, finden wir nun zwar im 18.Jahrhundert eine Abweichung von der Regel. Infolge des Zusammenwirkens einer Anzahl von Ursachen nicht zuletzt auch gesellschaftlicher Art und weil sich seit Fenelon ein Gegenschlag gegen die rationale, beamtenhafte und bürgerliche Stadtkultur und zugunsten des zivilisationsfremden idyllischen Hirten eingestellt hat und gleichzeitig hiermit auch eine Sympathie für seine Instrumente, Schalmei und Flöte, herrscht damals eine Zeitlang das Bläserkonzert vor. Im übrigen aber begreift sich jetzt nach allem Gesagten, daß sonst die Violine beim Solokonzert den Vorrang erhält.


Diese ganze Entwicklung zur endgültigen Trennung von Körperrhythmus, Wort und Klang, das heißt zu jener Scheidung, die wir beim Vergleich der Gegenwart mit den Anfängen als ersten Punkt erwähnten, bringt nun aber auch schleunigst eine Auflösung der übrigen Verknüpftheiten mit sich, die wir damals an zweiter, dritter und vierter Stelle aufzählten. Denn die Inhalte von Theater, Oper und Musik stehen unverbunden neben der Weltanschauung und neben der Religion, die in dieser Epoche der Staatlichkeit nicht mehr lebensbestimmende Macht allein ist. Ein Gefühl aber der Zueinandergehörigkeit


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