- 69 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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einer Eigenentwicklung zu überlassen, eine Lebenssphäre nach der andern aus der kirchlichen Umklammertheit loszulösen versucht. Jetzt unternimmt man von seiten der kirchlichen Autorität, insbesondere unter dem Einfluß der Jesuiten, die andern katholischen Richtungen und Gruppen gegenüber zur Macht gelangen, das nämliche; nur mit der umgekehrten Absicht, nämlich um zu retten, was zu retten ist. Eine Welt, die in lauter voneinander getrennte Sphären auseinanderfällt, solange nur formal die kirchliche Oberhoheit anerkannt ist, ergibt sich als Folge hiervon. Das äußert sich wie in Politik, Wissenschaft, Sakramentenlehre, Beichtpraxis, Lebensbejahung und Willensfreiheitsbetonung des nachtridentinischen Katholizismus, so auch in seiner Musik, und zwar, was letztere betrifft, in folgender Weise: Die Kunst kann entweder innerhalb der kultischen Feier als unterstützendes Mittel zum Ausdruck des Religiösen verwandt werden oder außerhalb ihrer zur Darstellung des Nicht-Metaphysischen, also des Heroischen und Leidenschaftlichen. Sie tut es nicht zuletzt in Gestalt der Oper. Letztere verdankt nämlich nicht dem Singspiel der Renaissance, sondern dieser Epoche ihre Entstehung und Gestaltung. Auch von den Einzelformen, die ihr charakteristisch sind, wie Ouvertüre, Aktfinale, Arie u.a.m., läßt sich Entsprechendes erweisen. Das Wort und der Klang, der auf instrumentalem Wege hervorgebracht wird, sind zwar hier noch verbunden, aber in einer rein formalen Weise. Die menschliche Stimme ist nämlich zu einem Instrument neben andern geworden. Beweis dessen unter anderm: die Belanglosigkeit des Textes sowie die Tatsache, daß in Form von Koloraturen inhaltlich bedeutungslose Silben aufs höchste hervorgehoben werden. In noch stärkerem Maße aber als die Oper bekundet diesen Geist eine andere Musikform: das Instrumentalkonzert. In jeder Hinsicht, vornehmlich aber eben in dieser völligen Trennung des Klanges vom Wort, erweist es sich als Kind des Geistes der Gegenreformation. Zum weiteren Verständnis der Entstehung dieser Scheidung müssen wir aber vorher noch einen andern Zusammenhang aufdecken. Die Diesseitsbejahung geht im nachtridentinischen Katholizismus ungleich weiter als im universaltheokratischen Mittelalter, und sie ist dort erst recht stärker als im Protestantismus mit seiner dauernden Betonung der Erbsünde. Sie äußert sich besonders in weitgehend gestatteter Freude am Sinnlichen und Glanzvollen. Charakteristischerweise schätzt man jetzt die entsprechende Stimmlage, den Tenor. Es beginnt als Kunst angesehen und dementsprechend als wichtig betrachtet


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