- 65 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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der letzteren, ihrer Krise sowie derjenigen Kräfte erforderlich ist, die innerhalb ihrer wirksam sind. Es handelt sich dabei in der Hauptsache um folgende vier Erscheinungen: Erstens die Gesellschaftsbedingtheit der Musikformen, zweitens die Struktur der Schichten, die als Träger der jeweiligen Musikkultur in Frage kommen, drittens die soziale Stellung der Musiker und viertens die Rolle, die bei alledem die Ideologie spielt. Jedem dieser vier Probleme widmen wir im folgenden eine Unterabteilung.


1. Als Nietzsche sein Werk “Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik” benannte, da war er fast bis zur Erkenntnis des Richtigen vorgedrungen. Die korrekte Formulierung hätte nämlich gelautet: Die Geburt der Tragödie, des Körperrhythmus und der Musik aus dem Geiste der Magie. Denn jene Anfänge von Schauspiel, Klangkunst und Leibbewegung, deren Erkenntnis uns gleichzeitig die heutige Situation in ihrer Besonderheit und Problematik begreifen hilft, haben sich folgendermaßen abgespielt: Um halbseßhafte mutterrechtliche Bodenbebauer handelt es sich hierbei. Bei solchen Stämmen steht die Frau im Mittelpunkte der Gesellschaft, und die Verwandtschaft wird nach der Mutter gerechnet. Man liegt einem Kult von Erde, Mond, Ahnen, Fruchtbarkeitsdämonen und ähnlichen Erscheinungen ob. Bei jenen Leuten, ebenso wie bei fast allen Primitiven ähnlicher Art, herrscht dabei in einer für uns wichtigen Hinsicht eine andere Haltung vor als diejenige, die uns neuzeitlichen Europäern selbstverständlich ist. Noch gilt in ihrer Logik der sogenannte Satz der Identität nicht, und dementsprechend kann ihrer Meinung nach ein Mensch gleichzeitig mit einem andern oder mit einem sonstigen Lebewesen identisch sein. Man steht also nicht etwa nur unter dem besonderen Schutz beispielsweise eines mächtigen Vogels, sondern man ist jener Vogel selbst; desgleichen vermag eine Puppe durch Zauber mit einem feindlichen Häuptling identisch gemacht zu werden, und alles, was man nun jenem leblosen Gegenstande zufügt, das erleidet auch diese bestimmte Person. Das gilt aber auch vom Kult. Von Leuten, die so ausschauen und sich so bewegen wie irgendwelche berühmte Ahnen oder Dämonen, würde man nach unsern Begriffen, und in unserm Sprachgebrauch sagen, sie seien verkleidet und spielten Theater. Nach dortiger Vorstellung sind sie mit jenen mächtigen Wesen identisch, und man ist bei derartigen festlichen Gelegenheiten überzeugt, sie im eigenen Kreise unmittelbar unter sich


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