- 58 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


Verzicht leistet, um sich in eine streng “objektive” Sphäre reiner Bedeutsamkeit zu erheben.1) Daß der Gewinn, den sie damit erreicht, immer zugleich ein Opfer in sich schließt, ist unbestreitbar; aber eben dieses Opfer und dieser Verzicht, diese Möglichkeit, in eine reine Sachwelt überzugehen und aufzugehen, bezeugt selbst eine spezifisch menschliche Kraft – eine selbständige und unentbehrliche Bekundung der “Humanität”.


Ein tieferer und ernsterer Konflikt aber tut sich vor uns auf, wenn wir das technische Wirken und Schaffen, statt es an ästhetischen Normen zu messen, nach seinem ethischen Recht und seinem ethischen Sinn befragen. In dem Augenblick, wo diese Frage mit vollem Nachdruck gestellt und wo sie in ihrer ganzen verantwortungsvollen Schwere verstanden wird, scheint die Entscheidung auch bereits gefällt zu sein. Für jene skeptische und negative Kulturkritik, wie sie im 18.Jahrhundert mit Rousseau einsetzt, scheint es kein gewichtigeres Zeugnis, keinen stärkeren Beleg geben zu können als die Entwicklung der modernen Technik. Hat nicht diese Entwicklung, unter der Verheißung und dem lockenden Gaukelbild der Freiheit, den Menschen immer unaufhaltsamer in Unfreiheit und Sklaverei verstrickt? Hat sie nicht, indem sie ihn von der Bindung an die Natur löste, seine soziale Gebundenheit bis zum Unerträglichen gesteigert? Gerade diejenigen Denker, die mit den Grundproblemen der Technik am tiefsten gerungen haben, haben immer wieder dieses sittliche Verdammungsurteil über sie gefällt. Wer sich nicht von vornherein den Forderungen der bloßen Nutzbarkeit verschrieb, sondern sich den Sinn für ethische und für geistige Maßstäbe bewahrte, der konnte an den schweren inneren Schäden der gepriesenen “technischen Kultur” nicht achtlos vorbeigehen. Unter den modernen Denkern haben wenige diese Schäden so scharf gesehen und so schonungslos aufgedeckt, als es Walther Rathenau 2) mit immer wachsender Energie und Leidenschaftlichkeit in seinen Schriften getan hat. Völlige Entseelung und Mechanisierung der Arbeit, härtester Frondienst auf der einen Seite – unbeschränkter Macht- und Herrschaftswille, zügelloser Ehrgeiz und sinnloser Warenhunger auf der andern Seite: so stellt sich für Rathenau das

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1) Für die theoretische Erkenntnis ist dieser Prozeß näher dargelegt und entwickelt in meiner Philos. der symbolischen Formen, Bd. III, bes. Teil III, Kap. 5 u. 6.

2) Vgl. bes. Rathenau, Von kommenden Dingen; Zur Kritik der Zeit, Zur Mechanik des Geistes.


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