- 57 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


werden will; es muß fortan für sich selbst sprechen, und es spricht nur noch von sich selbst, nicht von dem Schöpfer, dem es ursprünglich angehört. Von dem Künstler wird diese Art der Ablösung nicht gefordert  – und für ihn ist sie nicht möglich. Auch dort, wo er völlig in seinem Werk aufgeht, geht er in ihm nicht unter. Das Werk bleibt, indem es rein auf sich steht, immer zugleich das Zeugnis einer individuellen Lebensform, eines individuellen Daseins und So-Seins. Diese Art der “Harmonie” zwischen Werk-Schönheit und Ausdrucks-Schönheit kann das technische Schaffen weder erreichen noch auch nur anstreben. Als bei der Errichtung des Eiffelturmes die Pariser Künstler sich zu einer gemeinsamen Kundgebung vereinten, um im Namen des künstlerischen Geschmacks gegen dieses “unnütze und monströse” Bauwerk Einspruch zu erheben, da gab ihnen Eiffel zur Antwort, daß er fest davon überzeugt sei, daß sein Werk seine eigenartige Schönheit haben werde. “Stimmen die richtigen Bedingungen der Stabilität nicht jederzeit mit denen der Harmonie überein? Die Grundlage aller Baukunst ist, daß die Hauptlinien des Gebäudes vollkommen seiner Bestimmung entsprechen. Welches aber ist die Grundbedingung bei meinem Turm? Seine Widerstandsfähigkeit gegen den Wind! Und da behaupte ich, daß die Kurve der vier Turmpfeiler, die der statischen Berechnung gemäß von der gewaltigen Massigkeit ihrer Basen an in immer luftigere Gebilde zerlegt zur Spitze emporsteigen, einen mächtigen Eindruck von Kraft und Schönheit machen werden”.1) Aber diese Schönheit, die aus der vollkommenen Lösung eines statischen Problems entspringt, ist nicht von gleicher Art und Herkunft wie die Schönheit, die uns im Werk des Dichters, des Plastikers, des Musikers entgegentritt: denn die letztere beruht nicht nur auf einer “Bindung” der Kräfte der Natur, sondern sie stellt immer zugleich eine neue und einzigartige Synthese von Ich und Welt dar. Wenn man als die beiden Extreme, zwischen denen alle Kulturentwicklung sich bewegt, die Welt des Ausdrucks und die Welt der reinen Bedeutung bezeichnen kann, so ist in der Kunst gewissermaßen das ideale Gleichgewicht zwischen diesen beiden Extremen erreicht. Die Technik hat hingegen mit der theoretischen Erkenntnis, der sie eng verschwistert ist, den Grundzug gemein, daß sie mehr und mehr auf alles Ausdrucksmäßige

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1) Zitiert nach Julius Goldstein, Die Technik (Die Gesellschaft, hrsg. v. Martin Buber, Bd.40), S. 51


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