- 53 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


bezeugt sich auf einem neuen Wege, sobald man ins Gebiet des technischen Schaffens hinüberblickt. Auch das technische Werk teilt mit der theoretischen Wahrheit die Grundbestimmung, daß beide von der Forderung einer “Entsprechung” zwischen Gedanken und Wirklichkeit, einer “adaequatio rei et intellectus” beherrscht werden. Aber noch deutlicher als im theoretischen Erkennen tritt im technischen Schaffen hervor, daß diese “Entsprechung” nicht unmittelbar gegeben ist, sondern daß sie zu suchen und fortschreitend herzustellen ist. Die Technik unterwirft sich der Natur, indem sie ihren Gesetzen gehorcht und sie als unverbrüchliche Voraussetzungen ihres Wirkens betrachtet; aber unbeschadet dieses Gehorsams gegen die Naturgesetze ist ihr die Natur niemals ein Fertiges, ein bloßes Gesetztes, sondern ein ständig Neuzusetzendes, ein immer wieder zu Gestaltendes. Der Geist mißt stets von neuem die Gegenstände an sich und sich selbst an den Gegenständen, um in diesem zwiefachen Akt die echte adaequatio, die eigentliche “Angemessenheit” beider zu finden und sicherzustellen. Je weiter diese Bewegung greift und je mehr ihre Kraft anwächst, um so mehr fühlt und weiß er sich der Wirklichkeit “gewachsen”. Dieses innere Wachstum erfolgt nicht einfach unter der ständigen Leitung, unter der Vorschrift und Vormundschaft des Wirklichen; sondern es verlangt, daß wir ständig vom “Wirklichen” in ein Reich des “Möglichen” zurückgehen und das Wirkliche selbst unter dem Bilde des Möglichen erblicken. Die Gewinnung dieses Blick- und Richtpunkts bedeutet, in rein theoretischer Hinsicht, vielleicht die größte und denkwürdigste Leistung der Technik. Mitten im Gebiet des Notwendigen stehend und in der Anschauung des Notwendigen verharrend, entdeckt sie einen Umkreis freier Möglichkeiten. Diesen haftet keinerlei Unbestimmtheit, keine bloß-subjektive Unsicherheit an, sondern sie treten dem Denken als etwas durchaus Objektives entgegen. Die Technik fragt nicht in erster Linie nach dem, was ist, sondern nach dem, was sein kann. Aber dieses “Können” selbst bezeichnet keine bloße Annahme oder Mutmaßung, sondern es drückt sich in ihm eine assertorische Behauptung und eine assertorische Gewißheit aus – eine Gewißheit, deren letzte Beglaubigung freilich nicht in bloßen Urteilen, sondern im Herausstellen und Produzieren bestimmter Gebilde zu suchen ist. In diesem Sinne hat jede wahrhaft originelle technische Leistung den Charakter des Ent-Deckens als eines Auf-Deckens: es wird damit ein an sich bestehender Sachverhalt aus der Region des


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