- 51 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


diese Entfremdung bedroht wird. Auch die Technik stellt sich in ihrer Entfaltung nicht einfach neben die andern Grundrichtungen des Geistes, noch ordnet sie sich ihnen friedlich und harmonisch ein. Indem sie sich von ihnen unterscheidet, scheidet sie sich zugleich von ihnen ab und stellt sich ihnen entgegen. Sie beharrt nicht nur auf ihrer eigenen Norm, sondern sie droht diese Norm absolut zu setzen und sie den andern Gebieten aufzuzwingen. Hier bricht somit, im Kreise des geistigen Tuns und gewissermaßen in seinem eigenen Schoße, ein neuer Konflikt auf. Was nun verlangt wird, ist keine bloße Auseinandersetzung mit der “Natur”, sondern eine Grenzsetzung innerhalb des Geistes selbst –ist die Aufrichtung einer universellen Norm, die die Einzelnormen zugleich befriedigt und beschränkt.


Am einfachsten gestaltet sich diese Grenzbestimmung im Verhältnis der Technik zur theoretischen Naturerkenntnis. Hier scheint die Harmonie von Anfang an gegeben und gewährleistet; hier stellt sich kein Kampf um Über- oder Unterordnung, sondern ein wechselseitiges Geben und Nehmen dar. Jede der beiden Grundrichtungen steht auf sich selbst; aber eben diese Selbständigkeit entfaltet sich, ungehemmt und ungesucht, zur reinen Dienstbarkeit an der andern und mit der andern. Nirgends tritt die Wahrheit des Goethischen Worts, daß Tun und Denken, Denken und Tun, die Summe aller Weisheit bilden, so sichtbar hervor wie hier. Denn es ist keineswegs die “abstrakte”, die rein theoretische Erkenntnis der Naturgesetze, die vorangeht, und die erst der technischen Problemstellung und der konkret-technischen Betätigung die Wege weist. Vielmehr greifen beide Prozesse von Anfang an ineinander ein und halten sich gewissermaßen die Waage. Geschichtlich kann man sich dieses Verhältnis deutlich machen, wenn man auf die “Entdeckung der Natur” hinblickt, wie sie sich im europäischen Bewußtsein seit den Tagen der Renaissance vollzieht. Diese Entdeckung ist keineswegs allein ein Werk der großen Naturforscher, sondern sie geht wesentlich auf Antriebe zurück, die aus der Fragestellung der großen Erfinder stammen. In einem Geist wie Leonardo da Vinci stellt sich das Ineinander dieser beiden Grundrichtungen in klassischer Einfachheit und in klassischer Tiefe dar. Was Leonardo vom bloßen Gelehrtentum, vom Geist der “Letterati”, wie er ihn nennt, scheidet, ist die Tatsache, daß in ihm “Theorie” und “Praxis”, “Praxis” und “Poi‘sis” sich in einem ganz andern Maße als je zuvor miteinander durchdringen. Er wird als Künstler zum Techniker


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