- 48 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


Ausdrucksfreude ist es, was sich in diesen Arbeiten darstellt und was sie regelt und leitet. Noch heute läßt sich in weitverbreiteten Sitten der Naturvölker dieser Zusammenhang unmittelbar nachweisen. Von manchen Indianerstämmen wird berichtet, daß ihre Sprachen den Tanz und die Arbeit mit ein und demselben Wort bezeichnen: denn beides sind für sie so unmittelbar-verwandte und so unlöslich aneinander gebundene Phänomene, daß sie sich sprachlich und gedanklich nicht voneinander sondern lassen. Das Gelingen der Feldarbeit hängt, für das Bewußtsein dieser Stämme, in nicht geringerem Maße als von bestimmten äußerlich-technischen Verrichtungen, von der richtigen Ausführung ihrer kultischen Gesänge und Tänze ab: es ist ein und derselbe Bewegungsrhythmus, der beide Formen der Tätigkeit umschließt, und der sie noch in die Einheit eines einzigen, in sich ungebrochenen Lebensgefühls zusammenfaßt.1) Diese Einheit erscheint alsbald gefährdet und bedroht, sobald das Tun in die Form der Mittelbarkeit übergeht; sobald sich zwischen den Menschen und sein Werk das Werkzeug drängt. Denn dieses gehorcht seinem eigenen Gesetz: einem Gesetz, das der Dingwelt angehört und das demgemäß mit einem fremden Maß und einer fremden Norm in den freien Rhythmus der natürlichen Bewegungen einbricht. Dieser Störung und Hemmung gegenüber behauptet sich die organisch-körperliche Tätigkeit, sofern es ihr gelingt, das Werkzeug selbst gewissermaßen in den Kreislauf des natürlichen Daseins einzubeziehen. Auf den relativ frühen Stufen technischer Werktätigkeit scheint diese Einbeziehung noch ohne Schwierigkeit zu gelingen. Die organische Einheit und der organische Zusammenhang stellt sich wieder ein und stellt sich wieder her, sofern der Mensch mit dem Werkzeug, das er gebraucht, mehr und mehr “verwächst”; sofern er es nicht lediglich als ein Bloß-Materielles, als ein Ding- und Stoffhaftes ansieht, sondern sich in den Mittelpunkt seiner Funktion versetzt und sich, kraft dieser Verlegung des Schwerpunkts, mit ihm gewissermaßen solidarisch fühlt. Dieses Gefühl der Solidarität ist es, was den echten Handwerker beseelt: in dem besonderen individuellen Werk, das unter seinen Händen entsteht, hat er keine bloße Sache vor sich, sondern in ihm schaut er zugleich sich selbst und sein

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1) Näheres hierüber bei Preuß, Religion und Mythologie der Uitoto, Göttingen und Leipzig 1923, I, 123 ff., sowie in Preuß« Aufsatz: Der Ursprung der Religion und Kunst, Globus 1905, Bd. 87.


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