- 46 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


organischen Daseins und Lebens verstoßen hat. Mag man mit Kapp die ersten menschlichen Werkzeuge noch als bloße Weiterführungen dieses Daseins zu verstehen und zu deuten suchen – mag man in der Gestalt des Hammers und der Axt, des Meißels und des Bohrers, der Zange und der Säge nichts anderes als Sein und Bau der Hand selbst wiederfinden –, so versagt doch diese Analogie sofort, wenn man weiterschreitet und in die Sphäre der eigentlichen technischen Betätigung eintritt. Denn diese Sphäre wird von einem Gesetz beherrscht, das man mit Karl Marx als das Gesetz der “Emanzipation von der organischen Schranke” bezeichnet hat. Was die Instrumente der vollentwickelten Technik von den primitiven Werkzeugen trennt, ist eben dies, daß sie sich von dem Vorbild, das ihnen die Natur unmittelbar zu bieten vermag, freigemacht und gewissermaßen losgesagt haben. Erst auf Grund dieses “Lossagens” tritt das, was sie selbst zu sagen und zu leisten haben, tritt ihr selbständiger Sinn und ihre autonome Funktion vollständig zutage. Als das Grundprinzip, das die gesamte Entwicklung des modernen Maschinenbaus beherrscht, hat man den Umstand bezeichnet, daß die Maschine nicht mehr die Handarbeit oder gar die Natur nachzuahmen sucht, sondern daß sie bestrebt ist, die Aufgabe mit ihren eigenen, von den natürlichen oft völlig verschiedenen Mitteln zu lösen.1) Mit diesem Prinzip und seiner immer schärferen Durchführung hat die Technik erst ihre eigentliche Mündigkeit erlangt. Jetzt richtet sie eine neue Ordnung auf, die nicht in Anlehnung an die Natur, sondern nicht selten in bewußtem Gegensatz zu ihr gefunden wird. Die Entdeckung des neuen Wertzeugs stellt eine Umbildung, eine Revolution der bisherigen Wirkungsart, des Modus der Arbeit selbst, dar. So wurde, wie man betont hat, mit der Nähmaschine zugleich eine neue Nähweise, mit dem Walzwerk eine neue Schmiedeweise erfunden – und auch das Flugproblem konnte erst endgültig gelöst werden, als das technische Denken sich von dem Vorbild des Vogelflugs freimachte und das Prinzip des bewegten Flügels verließ.3) Abermals zeigt sich hier eine durchgängige und überraschende Analogie zwischen der technischen und der sprachlichen Funktion: zwischen dem “Geist des Werkzeugs” und dem “Werkzeug des Geistes”. Denn auch die Sprache sucht in ihren ersten Anfängen

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1) Vgl. Reuleaux, Theoretische Kinematik, Grundzüge einer Theorie das Maschinenwesens, z B., Braunschweig 1875.

2) Näheres bei Dessauer, a.a.O. S. 40ff.; Zschimmer, a.a.O. S. 102ff.


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