- 444 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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mehr gerade darin, solche Formen der gemeinsamen Musikausübung zu finden, in denen die Beziehung zwischen Musizierendem und Zuhörenden neu geordnet ist oder der Unterschied zwischen ihnen überhaupt wegfällt. Sich gemeinsam um ein Musikstück versammeln, wird dann wirklich heißen, an ihm teilzunehmen, nicht nur passiv “genießend” zuzuhören. Nicht als ob jenes letztere nun völlig verschwinden müsse; im Gegenteil, die Technisierung wird es, wie wir sahen, ganz besonders erleichtern; sie tut es ja heute schon. Aber das Nur-Zuhören wird weniger als jetzt eine Funktion in der Entwicklung des musikalischen Geschehens haben. Es wird an Bedeutung weit zurücktreten hinter neuen Forderungen und Ausdrucksmöglichkeiten, bei denen der Komponist die Mitarbeit des Hörenden von vornherein mit in Rechnung setzt. Das klingt schon heute nicht mehr ganz utopisch, wo wir schon Versuche solcher Art erlebt haben — wie zum Beispiel das “Lehrstück” von Brecht-Hindemith, das zwar gewiß künstlerisch sehr problematisch ist, aber in seiner soziologischen Veränderungstendenz sicherlich weiterweist. Die ihm zugrunde liegenden Bewegungen, die Form des gemeinsamen Musizierens neu zu bestimmen, werden im Sinne der hier dargelegten Tendenzen durch die Technisierung noch wesentlich verstärkt werden.


Es ist vergeblich, die Kultur des Nachspielens oder Nachschaffens vorhandener Werke neu beleben zu wollen, sie neigt sich ihrem Ende entgegen. Der Blick auf die Zukunft der Technisierung zwingt uns, mehr noch als bisher jenes andere Moment als entscheidend zu betrachten: die Neubelebung der schöpferischen Kräfte. Und es ist kein Zufall, daß dies in einer Epoche geschieht, in der wir anfangen, die ersten Erkenntnisse über das eigentliche Wesen der schöpferischen Kräfte zu gewinnen und uns damit zu beschäftigen, wie sie geweckt und lebendig erhalten und wodurch sie verschüttet werden. Die Anschauung, daß Schöpferkraft das Reservatrecht einzelner Begnadeter sei, hat sich als unhaltbar erwiesen; sie ist ein für allemal widerlegt durch die Erfolge der neuen Kunstpädagogik, wie sie für die bildenden Künste vom Bauhaus ausgeht und in der Musik am entschiedendsten repräsentiert wird durch die geniale Lehre Heinrich Jacobys, die den Unterschied zwischen “musikalisch” und “unmusikalisch” überhaupt aufhebt. Er hat auch gezeigt, daß es Möglichkeiten des gemeinsamen Schaffens von Musik gibt, wie dies an einer ganz andern Stelle wiederum: durch die gemeinsame und nur unvollkommen vorbereitete


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