- 442 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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einzelne Leistungen solcher Art werden durch ihre grenzenlose Verbreitungsmöglichkeit an Bedeutung und spezifischem Gewicht gewinnen. Aber wir werden überhaupt die fortwährende Wiederholung der gleichen Werke in weit geringerem Maße notwendig haben. Wem dieser Gedanke befremdlich erscheint, der mag sich vergegenwärtigen, daß ja heute bereits im Film oder Tonfilm etwas Ähnliches vorgeht. Angenommen, man kommt einmal dazu, ganze Theateraufführungen im Tonfilm zu fixieren, so ist das bereits genau das gleiche, wie es von der rein akustischen Wiedergabe für die Zukunft behauptet wurde. Dann wird nämlich jene Theateraufführung ebenfalls einmalig bleiben, wie nach meinen Uberlegungen später die Musikwiedergabe; man hat die Wiederholung dabei einfach nicht mehr nötig — sowenig wie jetzt etwa bei der Aufnahme eines Films. Auch sie erfolgt ja nur einmal — die Wiederholbarkeit ist eben durch ihre Technik gewährleistet.


Dazu kommt noch ein weiteres Moment, das sich in Zukunft ebenfalls in steigendem Maße geltend machen muß. Wir brauchen bisher für Musik den Menschen oder die Gruppe von Menschen, die ein Musikstück klanglich realisieren; wir brauchen sie, um es überhaupt zu hören. Auch das wird aber in einer späteren Zukunft sehr wahrscheinlich fortfallen. Es ist durchaus denkbar, daß dann ein Musikwerk einmalig in einer völlig authentischen Aufnahme vorliegt, die vielleicht vom Komponisten geleitet ist oder auf jeden Fall autoritativ fixiert wird; sei es derart, daß dabei menschliche Kräfte überhaupt nicht mehr in Anspruch genommen werden — wie schon heute für Kompositionen für den Welte-Mignon-Flügel, mechanische Orgel oder direkt für das Grammophon —, oder aber, daß eine einzige Aufführung derart bis ins kleinste entscheidend durchgearbeitet ist (wie schon jetzt beim Film), daß Wiederholungen überflüssig werden — es sei denn, sie erfolgten mit einem klanglich verbesserten Gesamtapparat des Orchesters oder der Einzelinstrumente. Dies wäre nämlich das einzige Moment, das sie dann überhaupt noch wünschenswert machte. Wir erkennen das, wenn wir uns etwa vorstellen, daß wir heute Bachsche Werke, von ihm selbst gespielt oder geleitet, oder das Klavierspiel Chopins völlig naturgetreu hören könnten. Dann würde uns sehr wahrscheinlich nur ein einziges Moment fehlen: das der Klangentwicklung, die inzwischen, besonders beim Klavier, vor sich gegangen ist.


Nun ist allerdings denkbar, daß ein Bedürfnis nach verschiedenartiger Deutung des gleichen Musikstückes weiter bestehen wird; aber es


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