- 439 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Die Technisierung hat also eine in unserer ganzen musikalischen Entwicklung führende Tendenz noch ganz bedeutend verstärkt; daß diese freilich auch sonst wirksam werden kann, ist natürlich nicht zu bezweifeln. Selbstverständlich kann man, und das geschieht ja häufig genug, auch im Konzertsaal ein musikalisches Werk in diesem Sinne zu Gehör bringen; aber es fragt sich, ob das Konzert als solches dazu auch dann notwendig ist, wenn die technische Wiedergabe aus ihren jetzigen Anfängen zur Vervollkommnung gelangt ist.


Wenn man schon jetzt vielfach sieht, daß die technische Musikwiedergabe das Konzert ersetzt, so ist in der Folge sehr wahrscheinlich mit einer ganz entschiedenen Verstärkung dieser Tendenz zu rechnen. Vielerlei Momente werden dahin wirken: praktische und ideelle. Die praktischen durch die äußeren Bedingungen der größten Billigkeit, wie zum Beispiel beim Rundfunk, und des immensen Vorzuges, daß wir nicht zum Konzert zu gehen brauchen, sondern daß es zu uns kommt. Das ist scheinbar eine Angelegenheit des Komforts, in Wahrheit aber nicht zu beurteilen ohne den Hinblick auf die Lebensführung des modernen Menschen, ganz besonders in der Großstadt. Denn je weiter sich die Städte ausdehnen, je mehr der natürliche Ausgleich zwischen Stadt und Land durch das Wohnen in Gartenvorstädten gefunden wird, desto schwieriger ist eine zweimalige Fahrt am Tage hin und zurück zu den Zentren des Geschäfts- oder des Musiklebens, wie sie zumeist bei dem Konzertbesuch notwendig ist. Das ideelle Moment aber besteht darin, daß, die notwendige technische Vervollkommnung vorausgesetzt, tatsächlich nichts in der Wiedergabe vorhandener Musikwerke durch Menschen sich der technischen Vermittlung widersetzt. Es ist unwahr, daß es notwendig ist, in mehr oder minder häßlichen Sälen zu sitzen, den Blick möglichst abgewandt von Nachbarn, die einen nicht interessieren, dagegen hypnotisch fixiert auf die Bewegungen musizierender Personen gerichtet, die mit dem musikalischen Gebilde nichts zu tun haben — es ist unwahr und überhaupt nur aus der Entwicklungsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu begreifen, daß ein solcher Besuch des Konzertraumes eine irgendwie organisch notwendige Voraussetzung des Musikerlebens sei. Und deshalb wird man zweckmäßig damit rechnen müssen, daß die Zukunft der Technisierung den jetzt beginnenden Vorgang, nämlich das Absterben des Konzertes, beschleunigt und schließlich besiegelt.


Damit ist nun nicht gesagt, daß jede Musikwiedergabe vor unmittelbar


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