- 438 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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dem Original annähert, daß sie von ihm praktisch nicht zu unterscheiden ist.


Als definitives und nicht modifizierbares Merkmal der technischen Vermittlung der Musik bleibt dann noch als letztes übrig: das Fehlen des Kontaktes von Interpreten und Hörer. Um es richtig zu bewerten, wird man es einmal richtig untersuchen müssen, wieweit dieses Moment die Wiedergabe von Musikwerken beeinflußt. Selbst angenommen, es sei in einem relativ hohen Grade der Fall, so bedeutet doch die Technisierung noch nicht, daß dieser Vorgang nun damit beseitigt würde: denn er kann ja stattfinden zwischen Spielern und den Hörern während der Aufnahme, zum Beispiel beim Rundfunk oder bei der Schallplatte. Dann wäre er ganz bestimmt in die Wiedergabe mit eingeschlossen. Es ist aber nun in hohem Maße fraglich, wieweit dieses Gerichtetsein des Künstlers auf ein Publikum und der einströmende Einfluß des Publikums auf ihn überhaupt ein wesentliches Kennzeichen des musikalischen Darstellungsvorganges sind. Der romantische Musiker, der aus einem Rausch heraus schafft und nachschafft, mag die Anwesenheit des Publikums in dem Maße brauchen, wie seine Darstellung momentan veränderlich ist, also unter dem Einfluß von “Stimmungen”, von seinem subjektiven, jederzeit beeindruckbaren Befinden, das sich in höchstem Maße der Einwirkung des Hörenden aussetzt. Dies ist aber nur der Fall bei einem romantischen Typ des reproduzierenden Künstlers, der heute erstens überhaupt nicht mehr in dem Maße vorhanden ist wie früher, und zweitens in seiner Bedeutung, in seinem Werte vollständig zurücktritt. Denn wir haben wieder gelernt, parallel mit der Entwicklung der Technisierung und zugleich ohne sie, daß es bei der Darstellung von Werken nicht darauf ankommt, die Eigenheit des nachschaffenden Künstlers ins rechte Licht zu rücken, daß gegebene Werke ihm nicht Mittel der Zurschaustellung des eigenen Ich sein dürfen, sondern daß es sich darum handelt, die Gesetze des Werks zu erfassen, es soweit als möglich objektivierend wiederzugeben. Das aber geschieht am ehesten dann, wenn der Musiker sich unbeeinflußt von Einwirkungen der Außenwelt in das Werk selbst versenkt; und deshalb ist es theoretisch durchaus denkbar und praktisch häufig genug erwiesen, daß Musiker in dem einsamen Senderaum das Edelste und Stärkste ihrer künstlerischen Persönlichkeit bieten: nämlich die Hingebung an das Werk, nicht im Sinne eines Rausches, sondern in dem eines aufmerksamen und unegoistischen Dienstes.


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