- 42 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


Philosophie diese Klage und Anklage wider sie erhoben. “Während jedes außermenschliche Lebewesen”, so sagt Ludwig Klages, der beredteste und radikalste Verfechter dieser Grundanschauung, “im Rhythmus des kosmischen Lebens pulst, hat der Mensch aus diesem abgetrennt das Gesetz des Geistes. Was ihm als dem Träger des Ichbewußtseins im Lichte der Überlegenheit vorausberechnenden Denkens über die Welt erscheint, das erscheint dem Metaphysiker, wenn anders er tief genug eindringt, im Lichte einer Knechtung des Lebens unter das Joch der Begriffe.” “Der Mensch hat sich zerworfen mit dem Planeten, der ihn gebar und nährte, ja mit dem Wendekreislauf aller Gestirne, weil er besessen ist von dieser vampirischen, dieser seelenzerstörenden Macht”.1)


Man verfehlt den eigentlichen Sinn dieser Anklagen, wenn man glaubt, sie abschwächen oder besiegen zu können, indem man hierbei lediglich bei der Betrachtung der Erscheinungen, der bloßen Wirkungen verharrt. Hier genügt es nicht, den verderblichen Wirkungen des rational-technischen Geistes, die offen zutage liegen, andere erfreuliche und wohltuende Folgen gegenüberzustellen und aus dieser Gegenüberstellung eine erträgliche oder günstige Bilanz zu ziehen, eine bestimmte “Lustsumme” zu errechnen. Denn die Frage richtet sich nicht auf die Folgen, sondern auf die Gründe; nicht auf die Ergebnisse, sondern auf die Funktionen. Solche funktionale Betrachtung und Analyse ist es, von der jegliche Kritik eines bestimmten Kulturinhalts und Kulturgebiets ausgehen muß. Im Mittelpunkt dieser Kritik muß stets die Frage nach dem Menschen selbst, nach seiner Bedeutung und “Bestimmung” stehen. In diesem Sinne hat Schiller, auf dem Gipfelpunkt einer bestimmten ästhetisch-humanistischen Kulturepoche stehend, die Frage nach der Bedeutung und dem Wert des “Ästhetischen” schlechthin gestellt. Und er beantwortet diese Frage dahin, daß die Kunst kein bloßer Besitz des Menschen ist, und daß sie ebensowenig eine bloße Leistung und Tat des Menschen darstelle, sondern daß sie vielmehr als ein notwendiger Weg zur Mensch-Werdung und als eine eigentümliche Phase derselben verstanden werden müsse. Es ist nicht der Mensch, der als bloßes Naturwesen, als physisch-organisches Wesen, zum Schöpfer der Kunst wird – sondern es ist vielmehr die Kunst, die

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1) Klages, Vom kosmogonischen Eros, München 1922, S. 45; vgl. Mensch und Erde, 5 Abhandlungen, München 1920, S. 40ff.


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