- 404 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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nicht hinderte, war jetzt die Bourgeoisie die Nutznießerin der produktiven Kräfte des Proletariats.


Das Proletariat – in der gänzlich verfehlten Übernahme bürgerlicher Gewohnheiten haßte einerseits die Klasse, für die es arbeitete, und betete andererseits deren Lebensformen an. Dieser verhängnisvolle Umstand verhinderte auch folgerichtig eine endgültige Emanzipation des Proletariats in Ländern mit einer langen bürgerlichen Tradition. Genau sowenig wie in solchen Ländern der feudale Stand jemals entscheidend vernichtet worden ist, weil man ihn zum geheimen Idol erhob, genau sowenig wird auch die Bourgeoisie zertrümmert werden, weil man ihre Lebensgewohnheiten respektiert.


Die Zeit der Werktreue, wie sie noch die Stände sorglich gepflegt hatten, war vorbei. Mit ihr war auch dem Volk jedes Qualitätsgefühl abhanden gekommen.


Der Trieb zur Kompensation war ungeheuer, um ihm gerecht zu werden, entstand den Umständen entsprechend der Kitsch.


Kitsch ist die Befriedigung eines künstlerischen Genußbedürfnisses ohne Hinblick auf handwerkliche Qualität.


Die Formen des bürgerlichen Kitsches waren den Voraussetzungen der bürgerlichen Klasse entsprechend.


Allgemein zu konstatieren war ein gewisses Niveau der Allgemeinbildung, das sich auf die verschiedenen Spezien der Afterkunst auswirkte.


Klavierspielen war allgemein verbreitet, eine gewisse Pflege der Lektüre war üblich, das Betrachten von Gemälden gehörte immerhin zum guten Ton. So konnte sich auch der Kitsch dieser Materiale bemächtigen. Es entstanden die faden Salonstücke, sentimentale Romane, sinnige Genrebilder.


Anders war jedoch die Situation des Proletariats. Der meist vom Lande zugereiste Arbeiter war jeder auch noch so äußerlichen Bildung bar. Katechismus, kleines Einmaleins, Lesen, Schreiben und vaterländische Geschichte waren doch wohl nicht die rechten Prägestöcke zur Charakterbildung.


So konnten die Formen bürgerlichen Kitsches, wenngleich sie von den Armen hoch verehrt wurden, bei einem solchen Publikum wenig an Wirksamkeit gewinnen. Bei der enormen Quantität der in den Großstädten zusammengekommenen Massen verlohnte es sich jedoch für den Kapitalisten, den Kompensationstrieb auch kommerziell auszuwerten.


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