- 40 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


in eben diesem Prozeß der Verwandlung des Gegenständlichen erfährt es selbst eine Wandlung und rückt von Ort zu Ort. Und an diesem Wandel erlebt nun der Mensch eine fortschreitende Steigerung, eine eigentümliche Potenzierung seines Selbst-Bewußtseins. Eine neue Welt-Stellung und eine neue Welt-Stimmung kündet sich jetzt gegenüber der mythisch-religiösen Weltansicht an. Der Mensch steht jetzt an jenem großen Wendepunkt seines Schicksals und seines Wissens von sich selbst, den der griechische Mythos in der Gestalt des Prometheus festgehalten hat. Der Dämonen- und Götterfurcht tritt der titanische Stolz und das titanische Freiheitsbewußtsein gegenüber. Das göttliche Feuer ist vom Sitz der Unsterblichen entwandt und im Bereich des Menschen, an seiner Wohnstätte und seinem Herd, angesiedelt. Das Wunsch- und Traumland, in das die Magie den Menschen eingehüllt hatte, ist zerstoben; er sieht sich hinausgewiesen in eine neue Wirklichkeit, die ihm mit ihrem ganzen Ernst und mit ihrer ganzen Strenge, mit einer Notwendigkeit, an der all seine Wünsche zerschellen, empfängt. Aber wenn er dieser Notwendigkeit nicht entgehen, wenn er die Welt nicht mehr nach seinen Wünschen zu lenken vermag – so lernt er jetzt mehr und mehr sie mit seinem Willen zu beherrschen. Er versucht nicht länger, sie aus ihrer Bahn zu lenken; er fügt sich dem ehernen Gesetz der Natur. Aber dieses Gesetz selbst umschließt ihn nicht gleich den Mauern eines Kerkers, sondern an ihm gewinnt und an ihm erprobt er eine neue Freiheit. Denn die Wirklichkeit selbst erweist sich, unbeschadet ihrer strengen und unaufheblichen Gesetzlichkeit, nicht als ein schlechthin starres Dasein, sondern als ein modifizierbarer, als ein bildsamer Stoff. Ihre Gestalt ist nicht fertig und endgültig, sondern sie bietet dem Wollen und dem Tun des Menschen einen Spielraum von unübersehbarer Weite. Indem er sich in diesem Spielraum bewegt – im Ganzen dessen, was durch seine Arbeit zu leisten ist und was durch diese seine Arbeit erst möglich wird –, baut der Mensch sich seine Welt, seinen Horizont der “Objekte” und seine Anschauung des eigenen Wesens fortschreitend auf. Aus jenem Zauberreich der unmittelbaren Wunscherfüllung, das die Magie lockend vor ihn hinstellte, sieht er sich nun freilich vertrieben – er ist auf einen an sich grenzenlosen Weg des Schaffens verwiesen, der ihm kein schlechthin endgültiges Ziel, keinen letzten Halt- und Ruhepunkt mehr verspricht. Aber statt dessen setzt jetzt für sein Bewußtsein auch eine neue Wert- und Sinnbestimmung ein: der eigentliche “Sinn” des Tuns läßt sich


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