- 389 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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jedoch nur im Sinne einer Art Liberalität, nicht einer souveränen Freiheit. Auf der andern Seite bedeutet Atonalität ein Verlust an Gegenständlichkeit. Das heißt, die formalen Bindungen, die der Musik eine gewisse Gegenständlichkeit mitgeben, sind durchbrochen, das Material ist funktionslos geworden. Mit andern Worten. Die bisherigen Mittel reichen noch aus, um eine tonale Erweiterung mitzumachen, weiterhin, um das beziehungslos gewordene Material äußerlich zusammenzukitten, indem man die Stilprinzipe bisheriger Musikepochen als verbindende Basis hineinträgt, indem man ein Relativum von Tonräumen schafft, die das Gepräge des Vergangenen besitzen. Man kann das für eine Lösung halten. Man kann sich mit einem regiemäßigen Wiederaufbauspiel der Stile gewesener Epochen, deren Maße man linear erweitert auf die letzten atonalen Errungenschaften hin, zufrieden geben. Schließlich bleibt auch nichts anderes übrig, um das aus seinen ursprünglichen Zusammenhängen herausgenommene Material wieder formal zu binden, als die überlieferten Formschemata wie Stilprinzipe zu kopieren und mit den atonalen Errungenschaften zu durchsetzen. Denn mit den Praktiken des Kontrapunktes und der Harmonie kann man nur das verarbeiten, was vom Standpunkt der Tradition betrachtet werden kann. So entsteht die paradoxe Situation, daß man die Musik des Mittelalters und der folgenden Jahrhunderte wieder pflegt und ihre Stilelemente als formales Bindemittel in das beziehungslos gewordene Material einführt, zugleich aber sich Jazz und Geräusch nicht entgehen läßt. Wie schon gesagt — man kann sich damit zufrieden geben und das, was Zerfall ist, “Neue Musik” nennen. Man kann aber auch der Ansicht sein, daß man auf halbem Wege stehengeblieben ist, anstatt auch noch mit dem letzten Rest von Tradition aufzuräumen, daß die Musik unserer Tage auch nicht eine einzige neue Form selbständig hervorgebracht hat. Nicht die Zielsetzung “Klangfarbenmelos” ist falsch. Allein die Methode, wie man die Lösung des Problems bisher betreibt, ist unbrauchbar. Denn das Formgesetz, welches geeignet wäre, das beziehungslos gewordene Material neu zu bilden, den vorläufig zu einem “begleitenden“ Geräusch- und Farbwert entspannten Zusammenklang neu zu binden, ist eben das der übertonalen Klangfarbenmelodie. Zur Form zurückfinden kann nur heißen, die Form nicht aus der Vergangenheit, sondern aus dem Zustand der totalen Veränderung ableiten, aus dem “Neuen“, was hinter der Destruktion steht und zur Verwirklichung drängt - heißt,


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