- 38 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


Anschauung der Axt, des Hammers usw. – erschöpft sich niemals in der Anschauung eines Dinges mit besonderen Merkmalen, eines Stoffes mit bestimmten Eigenschaften. Im Stoff wird hier vielmehr sein Gebrauch, in der “Materie” die Form der Wirksamkeit, die eigentümliche Funktion erschaut: und beides trennt sich voneinander nicht, sondern wird als eine unlösliche Einheit ergriffen und begriffen. Der Gegenstand ist als Etwas bestimmt immer nur soweit und sofern er zu Etwas bestimmt ist. Darin liegt, daß es in der Welt des Werkzeugs niemals bloße Dingbeschaffenheiten, sondern daß es in ihr, um einen mathematischen Ausdruck zu brauchen, nur ein Ganzes von “Vektorgrößen” gibt. Jedes Sein ist hier in sich bestimmt, aber es ist zugleich Ausdruck einer bestimmten Verrichtung, und in dieser Anschauung der Verrichtung geht dem Menschen ganz allgemein eine prinzipiell neue Blickrichtung, geht ihm die Auffassung einer "objektiven Kausalität” auf.


Wie groß freilich die Leistung ist, die hier gefordert wird, das tritt mit besonderer Deutlichkeit hervor, wenn man sich gegenwärtig hält, daß die Kluft zwischen den beiden verschiedenen Weltaspekten, die hier einander gegenüberstehen, nicht mit einem Ansatz übersprungen werden kann. Der Abstand zwischen den beiden Polen bleibt bestehen – und er kann nur Schritt für Schritt durchmessen werden. Lange nachdem der menschliche Geist in der Sprache und im Werkzeug die wichtigsten Mittel der Befreiung sich geschaffen hat, erscheinen ihm eben diese Mittel selbst noch wie eingehüllt in jenen magisch-mythischen Dunstkreis, über den sie ihn, in ihrer letzten und höchsten Entfaltung, hinausfahren sollen.1) Die Welt der Sprache wie die des Werkzeugs wird keineswegs unmittelbar als Schöpfung des Menschengeistes begriffen,

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1) Daß die eigentliche Bedeutung des Werkzeugs, in rein geistigem Sinne, darin liegt, daß es ein Grundmittel in jenem Prozeß der “Objektivation” darstellt, aus dem erst die Welt der “Sprache” und die Welt der “Vernunft” hervorgeht, hebt insbesondere Ludwig Noiré in seiner Schrift “Das Werkzeug und seine Bedeutung für die Entwicklungsgeschichte der Menschheit”, Mainz 1880, hervor. “Die hohe Wichtigkeit des Werkzeugs” – so betont er –“liegt hauptsächlich in zwei Dingen: erstens in der Lösung oder Aussonderung des Kausalverhältnisses, wodurch das letztere eine große, stets zunehmende Klarheit in dem menschlichen Bewußtsein erhält, und zweitens in der Objektivation oder Projizierung der eigenen, bisher nur in dem dunkleren Bewußtsein instinktiver Funktion tätigen Organe” (a.a.O.S.34). Das Recht dieser These bleibt bestehen, auch wenn man sich der von Noiré gegebenen Begründung  – einer Begründung, die hauptsächlich auf sprachgeschichtlichen Tatsachen und auf einer bestimmten Theorie über den Ursprung der Sprache beruht – nicht anschließt.


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