- 373 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Es gilt die Klaviatur des Films zu schaffen. Die Avantgardefilme schließen — von hier aus gesehen — eine Periode ab, “die wir als photographisch und malerisch orientierte Filmgestaltung betrachten können”


Die neue Problemstellung bedingt eine veränderte Auffassung von der Gestaltung des Akustischen. Als dem Film die Stimme noch fehlte, war die Musik belebendes Akkompagnement. Der Klang ersetzte gleichsam die dritte Dimension, die aus dem sonst so lebenstreuen Geschehen auf dem Laufbilde gestrichen war, und verdeckte die unnatürliche Geräuschlosigkeit der bewegten Bilder angenehm mit den Mitteln und Möglichkeiten der Musik. Da der Klang gewissermaßen aus einer andern, fremden und fernen Welt kam, konnte er eben nur “begleiten”. Tiefer in die Sphäre der Bildwelt einzudringen, blieb ihm versagt. Ob man die Begleitmusik aus schon existierenden Tonstücken zusammenstellt oder durchkomponiert und dann tonphotographisch fixiert, bleibt sich gleich. Mit dem Tonfilm tritt die Musik in ein neues Verhältnis zur Bildwelt. Der Klang läuft nicht mehr vor dem Bilde ab, sondern kommt wohlprofiliert und artikuliert aus ihm. Die Musik, die “begleitend” keinerlei Aufmerksamkeit beanspruchte, registrieren wir nunmehr, da sie in die Szene springt, mit erhöhter Aufmerksamkeit. Kurz, der Tonfilm beginnt dort, wo Gehörtes und Gesehenes grundsätzlich räumlich und zeitlich koordiniert sind. Der tönende Film von heute ist Geräusch-, Gesang-, Sprech- und Musikszene. Typische Schablone, mit der wir uns noch geraume Zeit hin abfinden müssen: An die Stelle von Boxkämpfen und ähnlichen Sensationen ist die Musikeinlage getreten, die Klangbildarie, die mehr oder weniger entscheidend in den Gang der Handlung eingeordnet ist. Was zwischen diesen Szenen liegt, wird mit Sprache, Geräusch und obligater Begleitmusik ausgefüllt, die nunmehr ihres natürlichen Raumes beraubt, irgendwo als Tonquelle fixiert, unsichtbar und haltlos durch die zweidimensionalen Räume geistert. Diese Form “Tonfilm” steht im besten Einklang mit dem heutigen Film und seinen Darstellungstendenzen. Die Absichten, welche diese Form bestimmen, sind nicht künstlerischer, sondern geschäftlicher Natur. Ihr kommt in der Form technischer Reproduktion Realität nicht länger zu. So angewandt, enthüllt zwar der Ton erschreckend die Krise des Montageprinzips — nicht minder die seiner eigenen Form. Die gegenwärtige Form des Tonfilms steht ebenso wie die des Films vor der Frage, ob sie sich neuen Vorstellungen erschließen oder ungeöffnet


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