- 372 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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bedingten des heutigen Films — die Ungestörtheit des inneren Zusammenhangs besitzt. Die visuelle Kontinuität geht dann über die verschiedenen Bildverbindungen, wie Schnitt, Überblendung... hinweg. Voraussetzung ist, daß die Bilder nicht mehr flächenhaft aneinander gereiht werden wie bisher, sondern räumlich gefügt werden. Man hat bisher, “vom Bild herkommend, die Projektionsfläche als Leinwand betrachtet und nur einen winzigen Teil des Filmlichtraumes belebt”. Die Tiefendimension blieb ungenutzt. So mußte der Versuch, “filmtechnisch die dem statischen Bilde fehlende Zeitdimension zum Gestaltungselement zu machen”, scheitern. Demgegenüber die neue Gestaltung. Die Raumausschnitte werden mittels der Bewegung in den gemeinsamen, vieldimensionalen Filmraum aufgelöst und zu neuen Räumlichkeiten ausgeformt, die zusammengefügt etwas anderes und Höheres sind als die Summe der Raumausschnitte, sowohl in zeitlicher als in räumlicher Beziehung. Das Prinzip der Montage gewinnt einen neuen Sinn. Die Montage, die auf der Auflösung einer natürlichen Handlungseinheit in den rhythmischen Wechsel mehr oder weniger vieler Einstellungen und Details beruht, bedeutet dann mehr als ein bunter und rapider Schauplatzwechsel, als das extensive Schildern einer Vielheit von Motiven — bedeutet Umformung des analysierten Materials in neue melodische Gebilde und tönende Übergänge im Sichtbaren, welche von Natur nicht da waren. Das kommt einer Vereinfachung der Handlung und ihrer Konzentrierung auf gleichsam wenige Schritte gleich. Die Dinge der Bildwelt nehmen dann gleichberechtigt an der Aktion teil in kontrapunktischer Abgestimmtheit und polyphoner Beweglichkeit zueinander, in der Form eines sichtbar klingenden Liniengefüges. Wie auch die neue Gestaltung im einzelnen aussehen mag, wesentlich ist uns hier die Problemstellung, die Richtung anzuzeigen, in der sich das künstlerische Denken bewegen wird. Bestimmt wird das Resultat so neu sein, daß es mit dem Film von heute nur wenig zu tun hat. Die Avantgardefilme vermögen uns nur eine unvollkommene Vorstellung von dem, was kommen wird, zu vermitteln. Sie liefern nicht unwichtige Speziallösungen zu dem Thema: Film und Kunst. Es geht jedoch um mehr, als um die Eroberung einer neuen Optik, die Übertragung der Modestile jüngster Kunst auf den Film und ihre posthume Rechtfertigung. Es geht nicht um eine Besserung im einzelnen, sondern um eine prinzipielle Umgestaltung, um eine grundsätzlich neue Stellungnahme gegenüber dem Problem “Kunst” überhaupt.


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