- 34 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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Ernst Cassirer: Form und Technik


nicht, wie in der Magie, das eigene Wünschen und Wähnen bloß untergeschoben, sondern es wird ihr ein eigenes unabhängiges Sein zugestanden. Und in dieser Selbstbescheidung erst ist der wahrhafte Sieg des Gedankens errungen. “Natura non vincitur nisi parendo”: der Sieg über die Natur läßt sich nur auf dem Wege des Gehorsams gegen sie erreichen. Durch diesen Gehorsam, der die Kräfte der Natur walten läßt, der sie nicht mehr magisch zu bannen und zu unterjochen versucht, wird nun auch im rein “theoretischen” Sinne eine neue Gestalt der Welt heraufgeführt. Der Mensch sucht nicht länger, sich die Wirklichkeit mit allen Mitteln des Zaubers und der Bezauberung gefügig zu machen; sondern er nimmt sie als ein selbständiges charakteristisches “Gefüge”. Sie hat für ihn aufgehört, ein amorpher Stoff zu sein, der sich zu jeder Metamorphose hergibt, der sich durch die Macht des magischen Wortes und Bildes zuletzt in jede beliebige Gestalt zwingen läßt. An Stelle des zauberischen Zwanges tritt die “Entdeckung” der Natur, die in jedem technischen Verhalten, in jedem noch so einfachen und primitiven Werkzeuggebrauch enthalten ist. Diese Entdeckung ist Aufdeckung: ist das Erfassen und Sichzueigenmachen eines wesenhaften und notwendigen Zusammenhangs, der zuvor verborgen lag. Damit erst ist die Gestaltenfülle und der unbeschränkte Gestaltenwandel der mythisch-magischen Welt auf eine feste Norm, auf ein bestimmtes Maß zurückgeführt — und doch ist andererseits die Wirklichkeit durch die Reduktion auf diese ihre inneren Maßverhältnisse nicht zu einem schlechthin starren Sein geworden, sondern sie hat ihre innere Beweglichkeit bewahrt. Sie hat von ihrer “Plastizität” nichts verloren; aber diese Plastizität, diese ihre “Formbarkeit” ist nunmehr wie in einen festen gedanklichen Rahmen eingespannt und auf bestimmte Regeln des “Möglichen” eingeschränkt. Dieses Objektiv-Mögliche erscheint jetzt als die Grenze, die der Allmacht des Wunsches und der affektiven Phantasie gesetzt ist. An die Stelle des bloß triebhaften Begehrens ist erst jetzt ein echtes, bewußtes Willensverhältnis getreten — ein Verhältnis, das Herrschen und Dienen, Fordern und Gehorchen, Sieg und Unterwerfung in eins faßt. In solcher Wechselbestimmung wird ein neuer Sinn des Ich und ein neuer Sinn der Welt ergriffen. Die Willkür, der bloße Eigenwille und Eigensinn des Ich tritt zurück — und in dem Maße, als dies geschieht, hebt sich der eigene Sinn des Daseins und des Geschehens, hebt sich die Wirklichkeit als Kosmos als Ordnung und Form heraus.


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