- 335 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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die Musik in Eile “einzurichten“, obendrein für ein Orchester, dessen Besetzung begreiflicherweise kaum je der vorgeschriebenen entspricht. Orchester und Orchesterstimmen passen nicht zueinander, einmal fehlt das Instrument, das gebraucht wird, einmal ist das Instrument da, aber keine Stimme zum Spielen. Die geschriebenen Stimmen wimmeln von Fehlern; seltene Ausnahme, daß sie vollzählig geliefert werden und pünktlich eingetroffen sind. Und ist solch kopiertes Leihmaterial erst durch ein paar Theater gegangen, dann sind, darauf kann man sich verlassen, ganze Seiten durch Korrekturen, Striche, Änderungen, Einzeichnungen aller Art so bis zur Unleserlichkeit entstellt, daß der routinierteste Spieler damit nicht fertig wird. So musiziert man sich, mit tausend Hindernissen, vom Blatt durch die Noten, von Vormittag auf Abend muß alle Arbeit getan sein — -: so wird die Originalmusik im Theater gespielt; so erklingt sie. Es klingt danach.


So ergeht es der Arbeit des Komponisten, der ihr und sein Schicksal der Praxis des Filmgeschäfts anvertraut. So geht es her — nicht im Alptraum eines Filmmusikers, sondern in der Wirklichkeit des Filmtheaters. In dem Bild der Musik, wie sie von diesem zugerichtet wird, spiegelt sich die Interesselosigkeit, Ahnungslosigkeit, Verantwortungslosigkeit, mit der die deutsche Filmindustrie — übrigens nicht allein die deutsche — den künstlerischen Forderungen der Filmmusik gegenübersteht. Nein, Filmmusik hat sich als künstlerische Aufgabe, als Angelegenheit künstlerischen Gewissens nicht durchgesetzt.


Dabei ist wohl nicht nötig, bei dem Sinn des Wortes “künstlerisch” und den Möglichkeiten seiner Anwendung länger zu verweilen. Kein Zweifel, die Grenzen von Kunst und Unkunst sind nicht unverrückbar, es gibt Grenzfälle, Mischfälle, Kreuzungen und fließende Übergänge. Doch was in diesem Zusammenhang unter “künstlerisch” — und jedenfalls, was unter “unkünstlerisch” zu verstehen ist, das bedarf keiner Definition. Musik als Kunst, sei es auch nur als helfende, dienende, mitwirkende Kunst — davon, von Kunst, kann hier nicht eher gesprochen werden, als sie selbst sich legitimiert, in Erscheinung zu treten. Man mag die Neunte Symphonie spielen und — nichts ist unmöglich — zur selben Zeit im selben Raum irgendeinen Film laufen lassen, dem sie solcherart als Illustration beigegeben wird, aber es wird dennoch nicht “künstlerische“ Filmmusik, nicht eine künstlerische Lösung des Problems Filmmusik sein, sondern Musikmißbrauch, Kunstvergewaltigung. Aber ein Stück Musik, an sich von noch so bescheidenem Kunstwert,


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