- 318 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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geführt; denn der übermittelnde Apparat ist eine Fläche. Durch die Eigentümlichkeiten der Übertragung wird die Musik ihrer Farbe im wesentlichen beraubt; nicht nur die Neutralisierung der Klangfarben, sondern auch die der Dynamik ist hier entscheidend. Denn im übertragenen Sinne verliert ja auch das Augenbild durch die fehlende Farbe an Dynamik des Lichts. Das Flächige ist wesentlich, die Unvollkommenheiten an Farbe und Dynamik scheinen zunächst zufällig. Aber die Beschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten wirkt hier in gleichem Maße stilisierend. Eine Musik, die auf Klangfarbe und Dynamik in deren wesentlichster Entfaltung verzichtet, ist im übertragenen Sinne gleichfalls eine Schwarzweißkunst. Eine vollkommene Radioakustik, die imstande sein würde, die Musik mit allen Farben zu photographieren, wäre ein Surrogat. Das Fernsehen würde auf die Radiokunst denselben vernichtenden Einfluß haben wie der Sieg des Tonfilms auf die Filmkunst.


Die Radiomusik hat also die Aufgabe, an die Stelle des Koloristischen das Zeichnerische zu setzen. Klangfarbe und Dynamik werden unwesentlich, die Linie, rhythmische und agogische Zeichnung wird entscheidend. Man braucht auch nicht im leisesten daran zu denken, die große Bedeutung von Farbe und Dynamik, überhaupt von allen Elementen des dreidimensionalen Musizierens in irgendeiner Form zu verneinen, um doch feststellen zu müssen, daß hier Neues in Erscheinung tritt. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß eine Musik rein flächiger Natur, die also nur durch Zeichnung wirkt, wie gesagt nur Linie, Rhythmus, Agogik hat, ihre Daseinsberechtigung in dem Augenblick erringen muß, wo sich hier ein selbständiges Stilproblem klärt.


Der eigentümliche Umstand wird aber hier wieder wahrgenommen, daß soziologische und geistige Entwicklung sich die Waage halten. Aus den verschiedensten äußeren Umständen entsteht das hier aufgerollte Problem der Radiomusik; ebendasselbe spielt aber eine entscheidende Rolle in dem Ringen um einen neuen Musikstil überhaupt. Nicht die Romantik, nicht die Kunst des 19. Jahrhunderts wird von den ernsten Neuerern abgelehnt, sondern die Überschätzung der Farbe und der Dynamik.


Wir kehren zum Film zurück. Gleichgültig, wie seine eigene Zukunft sein wird, er hat die gesamten darstellenden Künste und darüber hinaus die ganze Kunst unübersehbar stark beeinflußt und geformt


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