- 316 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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war. Man ist von diesen ersten Versuchen heute stark zurückgekommen und wendet diese stark naturalistische Kulisse so sparsam wie möglich an. Daneben bricht sich aber allmählich die Erkenntnis Bahn, welche außerordentlichen Möglichkeiten sich hier für die Musik auftun. Diese hat ganz besonders im 19. Jahrhundert, in dem Zeitalter des Augenmenschen, sich derartig bis in ihr Innerstes mit Assoziationen zur optischen Phantasie erfüllt, daß ihre Verbindung mit dem Wort so stark wie kein anderes Mittel imstande ist, das akustische Erlebnis zum Weltbild zu weiten.


Zu dieser Erkenntnis kommt eine weitere, die heute bereits allgemein gewonnen ist, daß sich das reine Wort im Radio schnell abnutzt, daß der Hörer gegen rein akustische Eindrücke schnell stumpf wird, wenn er den Ton entbehren muß. Andererseits wissen wir aber auch, daß durch das eigentümliche Wesen der Sendeakustik, das wir in anderm Zusammenhang noch zu würdigen haben werden, gesprochenes Wort und Ton nirgends so zwanglos verbunden werden können als im Mikrophon. Daraus ergibt sich, daß das alte Problem des Melodrams, ein Sorgen- und Schmerzenskind seit Rousseaus Zeiten, gepriesen und gescholten wie Helena, niemals bewältigt und bezwungen, nun seiner Lösung entgegengeht. Was das für Folgen über den Rundfunk hinaus haben wird, wenn über den Weg des Radio eine engere Bindung zwischen gesprochenem Wort und Musik gefunden werden wird, ist nicht abzusehen. Vielleicht wird es sich hier ähnlich entwickeln wie beim Film, der auch zahlreiche Probleme des Theaters außerhalb von sich selbst geklärt hat. Unter diesem Gesichtswinkel wird vielleicht sogar das dramaturgisch einstweilen höchst fragwürdige Experiment von Kaminskis Jürg Jenatsch in einer neuen und zukunftsweisenden Beleuchtung erscheinen.


Wir sprachen soeben von der Augenmusik des 19. Jahrhunderts. Sie ist ein typisches Merkmal der Romantik, die ebenso, wie sie sich zum individuellen Ausdruck der beliebigen Palette aller nur irgendwie erraffbaren Mittel gern bedient, so auch vielfach bestimmte stilistische Wirkungen durch die Mittel eines andern Stils hervorzubringen versucht und deshalb ihrem Wesen nach im Optischen akustisch und im Akustischen optisch sein kann. Die stilisierenden Kräfte des Rundfunks stehen ihrer Natur nach dieser Ideenwelt sehr nah. Altes und Neues schließt sich zu einem Ring. Die antiromantisch-stilisierenden Kräfte des Rundfunks und übrigens auch des Films führen immer


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