- 314 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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von höchstens vielleicht einigen hundert Musikern gedeckt wird! Man hat oft behauptet, daß ein solches Endergebnis das Letzte und Höchste einer Qualitätsauslese bedeuten würde. Wer sich aber überhaupt nur irgendwie mit den Problemen der Musik und der musikalischen Berufsfragen etwas tiefer beschäftigt hat, weiß, daß eine solche Auslese das Ende der Musik bedeuten würde, die ebenso nur leben kann wie jeder andere Kultur- und Berufsstand, wenn eine soziale natürliche Schichtung vom primitivsten Nur-Hörer über die verschiedenartigsten Mittelschichten bis zu den Prominenten gesund und kräftig gewahrt bleibt. Es ist begreiflich, daß man bei einer solchen Gewitterwolke am Himmel gerade in Musikerkreisen vielfach verächtlich unfreundlich von Maschinenmusik und dann, unter besonderem Hinweis auf die Schallplatte, von Konservenmusik spricht. Nur kluge Kulturpolitik wird hier imstande sein, schwere Gefahren abzuwenden.


Das Ergebnis dieser wechselseitigen Kritik von Rundfunk und Konzertsaal ergibt für uns zunächst einen festen Punkt in dem Chaos der miteinander ringenden Meinungen und Anschauungen. Es trennen sich hier zwei musikalische Welten; was sich in der einen zu vollenden vermag, ist der anderen nicht gegeben und umgekehrt. Bei einer einigermaßen gesunden Entwicklung der Dinge wird das Radio den Konzertsaal niemals verdrängen, aber ebensowenig das Radio an der Konkurrenz mit der älteren musikalischen Pflegestätte wieder zugrunde gehen können. Voraussetzung für das letztere würde allerdings die Erfüllung einer fundamentalen ästhetischen Forderung sein: der Rundfunk müßte den Beweis erbringen, daß er imstande wäre, einen eigenen Stil zu entwickeln, der sich neben den andern musikalischen Stilarten selbständig behaupten könnte; denn kein Ausdrucksmittel in der Kunst vermag jemals Daseinsberechtigung zu erwerben, ohne diese in einer ihm allein zugehörigen stilistischen Eigenart zu verankern.


Der Rundfunk als Kunstmittel ist erst wenige Jahre alt. Daß hier heute noch nicht von selbständigem Stil gesprochen werden kann, wissen wir. Aber damit ist keinerlei Beweis gegen die Entwicklungsmöglichkeiten gegeben. Vergessen wir nicht, wie lange Zeit, wie viele Jahrhunderte mitunter andere musikalische Stilarten gebraucht haben, bis sie zu einem Klärungspunkt gelangten! Vom Blickpunkt der Musikgeschichte aus gesehen, müssen wir zugeben, daß die Zukunftsperspektiven überhaupt nicht zu überschauen sind, daß wir kaum wagen dürfen, mit der Geste des Propheten zu bejahen und zu verneinen.


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