- 311 -Kestenberg, Leo (Hrsg.): Kunst und Technik 
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ganze Reihe von Versuchen ist später gemacht worden, auch im Konzertsaal, den Dirigenten und sein Orchester vor den Blicken verschwinden zu lassen; wir erinnern hier unter anderm nur an Paul Marsop. Daß die letzteren Versuche sich nicht durchgesetzt haben, wissen wir. Im Musikdrama liegen die Verhältnisse insofern anders, als es sich hierbei nicht um eine Eliminierung des Optischen, sondern um die eines nebensächlichen störenden Bildes gegenüber dem Hauptbilde handelt. Im übrigen hat auch das verdeckte Orchester in der Oper, selbst das versenkte offene, seine Gegner gehabt, wie z.B. Ernst v. Schuch, der die höchste Kunst des Operndirigenten darin sah, bei hochgelegtem offenen Orchester solche Pianissimi zu erzielen, daß auf der Bühne jedes Wort verständlich blieb.


Wie viele außerkünstlerische Elemente im übrigen in diesen optischen liegen, beweisen uns zahlreiche Entartungen wie die vielfach grotesken Posen von Pianisten und Geigern und die ”Ballettkunst“ der Dirigenten. Wie oft hört man im Publikum sagen: “Ich habe den Dirigenten X. dirigieren sehen!” Wie oft tritt ein funkelnder Brillantring, eine schön ondulierte Perücke, ein die Backfischherzen entzückender gutsitzender Frack, eine kunstvolle Miene der Ergriffenheit an die Stelle von Beethoven! Anders sind die Verhältnisse allerdings schon wieder beim Sänger, ähnlich wie übrigens beim Rezitator, wo das unmittelbare Sichwenden von Mensch zu Mensch eine Rolle spielt. Wir sehen aus diesen Beispielen, daß die Dinge hier vielleicht doch tiefer liegen müssen.


Kunst und Religion hängen auf das innigste zusammen, und zwar nicht nur durch die zahlreichen Berührungspunkte in ihrer Auswirkung, sondern vor allem durch die tiefen gemeinsamen Wurzeln. Stets pflegt uns die Betrachtung des einen Gebietes überraschende Aufklärungen über das andere zu geben. So verhält es sich auch hier. In fast allen Religionen ist der Begriff des Kultischen untrennbar mit dem des sakralen Ortes verbunden: sein letzter Sinn ist der einer Distanzierung des Gläubigen vom Alltag; dazu kommt als zweites die Vereinigung in der gläubigen Gemeinde. Auf zahlreichen Gebieten der Kunst, vor allem aber im Theater und im Konzertsaal, spielen diese beiden letzteren Gesichtspunkte aber entscheidend mit. Die phantasiefesselnde Kraft berühmter Kunststätten ist bekannt. Ihre Bedeutung als geradezu geheiligte Stätten zeigt sich gerade in der Entrückung aus der Banalität des Alltäglichen. Die Kunstgemeinde erscheint durchaus


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